Christa Wolfs „Leibhaftig“ – Gesellschaftskritik mal anders

Christa Wolfs „Leibhaftig“ – Gesellschaftskritik mal anders

Der Zugang zum Text:
Inwieweit hat meine medizinische Voreingenommenheit mein Leseerlebnis beeinflusst? Ich frage dich: Kann eine examinierte Krankenpflegerin einen solchen Text objektiv lesen? Erst nachdem ich über den geschichtlichen und biographischen Hintergrund des Textes gestolpert bin, begann ich den Text anders zu verstehen oder überhaupt erst zu verstehen. Hier wohl eher Ricœur paraphrasiert[1]. Ich erzähle dir von meiner Reise über das erste Textverständnis hin zu einer eher objektiveren Interpretation. Ganz im Sinne Gadamers hermeneutischem Zirkel. Verstehen ändert und erweitert sich. Ich nehme dich mit auf meine Textreise. Meinst du mir wird dies gelingen?

Die Reise durch den Text:
Der zugrundeliegende Textausschnitt des Buches „Leibhaftig“ beginnt abrupt und wirft mich in eine laufende Konversation. Ein überraschender Einstieg.
Es wird schnell deutlich, dass die Autorin ständig zwischen der ersten Person (der Patientin) und der dritten Person hin und her schwankt, zwischen Real- und einer Parallelwelt (die sich in der griechischen Mythologie abspielt) hin und her schwebt und dabei mehrfach (teilweise unpassende) Metaphern nutzt.
Dies macht die Lektüre durchaus herausfordernd. Ich schwanke und schwebe an einigen Stellen ebenfalls. Einen gewöhnlichen roten Faden kann man scheinbar lange suchen.
So suggeriert das anfänglich angeführte „Bettboot“[2] eine Instabilität, die man auf den Krankheitszustand und die psychische Verfasstheit beziehen kann. Sie zieht sich durch die gesamte Erzählung. Du – das sind wir, die Leser*innen dieses Textes, wie auch die Autorin in leibhaftiger Korrespondenz – erzählst mir, dass der Text einen deutlichen politischen Hintergrund der DDR hat, was mich erst verwundert und mir dann sehr logisch erscheint. Somit kann man diese Instabilität, die der Text suggeriert, auch auf den politischen Hintergrund übertragen.
Zum „Bettboot“ gesellen sich Metaphern wie das „Flugzeug, [welches] aus allen Himmeln gestürzt“[3] kommt. Es handelt sich hierbei um zwei essentielle Elemente der Natur: Wasser und Luft. Ein Krankenhausaufenthalt stellt für jeden Menschen eine Ausnahmesituation dar, durch welche essentielle Elemente des Lebens in Frage gestellt werden. Wasser und Luft als Metapher könnten essentielle Elemente des Lebens darstellen.
Das weitere Lesen verwirrt mich stark, weshalb ich früh an ein Delir denke.
Du bestätigst mich: „immer wieder [erlebt die Patientin] delirante Zustände zwischen Leben und Tod.“[4] Ein Delir ist negativ behaftet, die Patientin konnotiert es durch den Vergleich mit Musik jedoch positiv. Sie springt von der Beschreibung einer musikalischen Komposition zur Beschreibung von Gräueltaten bis hin zum Tod, was abermals die konfuse Gefühlswelt/Körperwelt der Patientin darstellt. Spricht sie von einem Streit, verändert sich die Ausdrucksweise keineswegs, es wirkt affektflach. Der gesamte Text ist mit einer „unaufgeregte(n) und dennoch intensive(n) Stimme“[5] vorgebracht. Du erzählst mir, dass die Autorin selbst an psychischen und somatischen Erkrankungen litt, und früh mit dem Thema Tod konfrontiert wurde, was mich in meiner Vermutung bestärkt.
Im Verlauf wird eine Frage des Sinns gestellt: „Was ist Menschenglück?“[6]
Du erläuterst: Als „Aufgabe des Schriftstellers sieht Christa Wolf somit im Erhalt des sozialen Seelenheils der Gesellschaft.“[7] Die Frage wird in den Raum geworfen und wird nicht weiter beachtet, regt jedoch zum Nachdenken an.
Die Patientin muss einen längeren Krankenhausaufenthalt hinter sich haben. Dies mache ich an folgenden Textstellen fest: „Ihr farbenentwöhntes Auge“[8], spricht für den permanenten Aufenthalt in einem Patientenzimmer. Permanenz die Farben vertreibt. Das Vergessen um die Möglichkeit des Positionswechsels im Bett, bietet Rückschluss auf das längere Verweilen im Bett in Kombination mit Schmerzen. Die Anästhesistin wird „mütterlich“[9] personifiziert. Ein Gehversuch schlussendlich macht abermals die lange Liegedauer deutlich: „Sehen Sie sich das Panorama an, damit Sie endlich wissen, wo Sie die ganze Zeit gewesen sind“[10]
Die Ärztin wird auffällig äußerlich und kindlich beschrieben.
Du erzählst mir, dass sich die Autorin mit dem Rollenbild der Frau auseinandergesetzt hat.
Weitere Kindheits-Bezüge wie: „Kinderbrei“[11], „das sei kindisch“[12], sowie die Anführung von Märchen, lassen vermuten, dass Kindheit eine Rolle für die Autorin spielt.
Und tatsächlich, du bestätigst, dass sich die Autorin „den Ereignissen ihrer Kindheit“[13] zugewendet hat.
Beim Namen der Ärztin, Kora Bachmann musste ich an die Darstellerin „Sexy Cora“ denken, welche durch eine Operation verstorben ist. Die behandelnde Anästhesistin von „Sexy Cora“ wurde zu 14 Monaten Haft verurteilt. Eine natürlich falsche Assoziation!
Du erzählst mir von der griechischen Mythologie Koras, die von Hades entführt wurde und durch Aushandlung der Mutter zwischen Ober- und Unterwelt hin und her wandelt.
„Für diesen Wechsel zwischen Unter- und Oberwelt steht Kora Bachmann.“[14] Der Nachname Bachmann stellt Bezug zur Dichterin Ingeborg Bachmann her. Aber nicht nur namentlich werden Parallelen zur griechischen Mythologie gezogen. Kora Bachmann wird als Hades personifiziert. Sie besteht in der wachen und schlafenden Phase der Patientin. Sie ist die „Botin, welche die noch nicht toten Seelen auf ihrem Gang zum Hades abfängt, sie der Unterwelt entreißt und zurückbringt in das Reich der Lebenden.“[15] Somit besitzt sie eine „symbolische oder repräsentative Funktion.“[16]
Sie hat großes Vertrauen zur Ärztin: so hat sie nicht einmal Angst bei der Verabreichung des von ihr so genannten „Gift.“[17] Hättest du nicht Angst davor?
Es kommt eine weitere Person ins Spiel: Urban, welcher mich anfänglich stutzig macht. Ist er ein Angehöriger? Oder doch ein Kollege, weil sie sich auf einer Versammlung befinden? Ein Kollege von was? Ist es vielleicht eine Gerichtsverhandlung? Oder doch eher ein Wahlkampf? Am Ende begeht Urban wahrscheinlich Selbstmord und es bleibt ein großes Fragezeichen meinerseits. Du schaffst Klarheit: Urban fungiert als „Literaturwissenschafts-Apparatschik Hans Koch“[18] und stellt eine „Metapher für Kritik oder reines Aufzeigen politischer und gesellschaftlicher Konflikte“ dar.[19] Was für die Autorin eine große Rolle spielt da sie es als epochal beschreibt.
Die Autorin schließt mit der letzten metaphorischen Figur, den Bezug zur Dichterin Ingeborg Bachmann. Der vorletzte Satz: „Du sollst ja nicht weinen” stammt aus einem Gedicht von Ingeborg Bachmann. Du erzählst mir, dass „Ingeborg Bachmann – und mit ihr die Literatur überhaupt – in Leibhaftig als Therapeutin“ fungiert.[20]

Reisetagebuch:
„Leibhaftig“ hinterlässt beim ersten Lesen ein großes Fragezeichen und viel Verwirrung, gerade weil ich ein solch metaphorisches Setting, auch noch gemischt mit griechischer Mythologie nicht erwartet hätte. Mein Krankenschwester-Dasein hat mich teilweise auf die „richtige“ Fährte gelockt, teilweise jedoch auch in die Irre geführt. Das erneute Lesen, nun mit überholtem Vorverständnis machte vieles klarer.
Die Krise des Individuums als vermeintliche Kritik an der Gesellschaft ist stilistisch wenn auch kompliziert gelungen. Den Wechsel zwischen erster und dritter Person des Textes habe ich versucht in meinem Essay wiederzuverwenden. Du hast mir dabei geholfen, den Text besser zu verstehen.


Über die Autorin: Monique Schmitt studiert Kulturwissenschaften im ersten Semester und ist examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin. Sie hat den Schritt gewagt nach langjähriger Arbeit im Krankenhaus ein geisteswissenschaftliches Studium zu beginnen, um ihren Horizont zu erweitern. Sie interessiert sich für gesellschaftspolitische Themen wie Rassismus, Kulturerbe Bildung und Nachhaltigkeit.


Die Lesung einiger Auszüge aus “Leibhaftig” ist auf unserem Blog unter folgendem Link zu finden: Christa Wolf: “Leibhaftig”, gelesen von Verena Häseler.


[1] Verwijs, Rebecca (2011): Medizinische Aspekte im Werk Christa Wolfs am Beispiel ihrer Erzählung „Leibhaftig“, Köln, S. 20.
[2] Wolf, Christa (2002): Leibhaftig, München, S. 53.
[3] Wolf: Leibhaftig, S. 53.
[4] Verwijs, Rebecca (2011): Medizinische Aspekte im Werk Christa Wolfs am Beispiel ihrer Erzählung „Leibhaftig“, Köln, S. 20.
[5] Koerner, Swantje-Brit (2002): Wenn der Staat im Leibe stecken bleibt, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/rezension-wenn-der-staat-im-leibe-stecken-bleibt-152307.html, letzter Zugriff am 10.02.2021.
[6] Wolf: Leibhaftig, S. 54.
[7] Verwijs: Medizinische Aspekte im Werk Christa Wolfs am Beispiel ihrer Erzählung „Leibhaftig“, S. 15.
[8] Wolf: Leibhaftig, S. 170.
[9] Wolf: Leibhaftig, S. 54.
[10] Wolf: Leibhaftig, S. 178.
[11] Wolf: Leibhaftig, S. 173.
[12] Wolf: Leibhaftig, S. 176.
[13] Verwijs: Medizinische Aspekte im Werk Christa Wolfs am Beispiel ihrer Erzählung „Leibhaftig“, S. 14.
[14] Löffler, Katrin (2016): Lebensreflexionen: „Leibhaftig“, in: Hilmes, Carola / Nagelschmidt, Ilse (Hg.): Christa Wolf-Handbuch Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, S. 234.
[15] Wolf: Leibhaftig, S. 177.
[16] Löffler: Lebensreflexionen: „Leibhaftig“, S. 233.
[17] Wolf: Leibhaftig, S. 55.
[18] Koerner: Wenn der Staat im Leibe stecken bleibt.
[19] Verwijs: Medizinische Aspekte im Werk Christa Wolfs am Beispiel ihrer Erzählung „Leibhaftig“, S. 21.
[20] Löffler: Lebensreflexionen: „Leibhaftig“, S. 235.

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