Von Leitern und Teppichen – Überlegungen zum Prozess des Verstehens anhand Christa Wolfs „Leibhaftig”

Von Leitern und Teppichen – Überlegungen zum Prozess des Verstehens anhand Christa Wolfs „Leibhaftig”

Am Anfang ist da ein Text, aber was ist ein Text? Ein einfaches alltägliches Wort, das sich jedoch einer präzisen und allgemein anerkannten wissenschaftlichen Definition entzieht.[i] Natürlich: Buchstaben, Wörter, Sätze, Abschnitte, Kapitel – aber irgendwie ist ein Text am Ende immer mehr als die Summe seiner Teile. Theoretisch könnte ein Affe, wenn er nur unendlich viel Zeit hätte, zufällig alle Werke der Weltliteratur auf einer Schreibmaschine tippen, so heißt es.[ii] Doch würde diesen Werken tatsächlich die gleiche Qualität inne wohnen? Ist es die Intention, die am Ende aus unendlicher Variation etwas kreiert, das Sinn ergibt und Verstehen fordert?

Verstehen – dieser grundlegende Vorgang, der sich einer Definition mindestens so geschickt entzieht wie der Begriff des Textes. Warum ist es so schwer zu definieren, was wir in jeder wachen Minute sowieso tun? Nimm einen Text – irgendeinen Text – und versuche, ihn zu verstehen. Hier ist Christa Wolfs „Leibhaftig“. Ein ausgedrucktes PDF, schlechte Qualität, der alte Drucker hat schon bessere Tage gesehen. Vorsicht, du hast es nicht mit dem Originaltext zu tun, sondern mit einer Variante, zusammengestückelt aus einzelnen Passagen.[iii] Du fragst dich, ob dieser Text denselben Sinn enthält wie das Original. Nun, so lange du nicht liest, ist es in jedem Fall nur Druckertinte auf Papier. Der Sinn eines Textes entfaltet sich erst im lesenden Bewusstsein und damit ist Sinn wahrscheinlich viel flüchtiger als gemeinhin angenommen.

Hermeneutik ist die Kunst des Verstehens. Doch es zeigt sich, dass diese Kunst abhängig ist von jenen, die sie ausüben. Schleiermacher, Heidegger, Gadamer, Ricoeur – sie alle schrieben über Hermeneutik und trotzdem sind die jeweiligen Ansätze verschiedenartig und betonen unterschiedliche Facetten des großen Mysteriums Verstehen. Aus den vielen Methoden der Hermeneutik wählend, entscheidest du dich für den klassischen Ansatz nach Schleiermacher. Demnach geht es zunächst darum, den Text zu erfassen, sich einen Überblick zu verschaffen. Darauf folgt das grammatikalische und das psychologische Verstehen und nur wer diese beiden Ebenen zur Übereinstimmung bringt, durchdringt den Text ganz und gar.[iv]

Was heißt es, einen Text zu erfassen? Sehen, dass was steht; lesen, was steht. Seltsam, wie sich Verstehen aus Verstehen ergibt. Die Sprache ist die Leiter, über die du also auf die erste Stufe des Verstehens kletterst. Sie erweist sich hier als wackelig. Du darfst dich zwar an ein paar Brocken Vertrautheit festhalten – ein Bett, ein Fenster, ein Radio, ein Krankenzimmer anscheinend – doch die schwimmen wie Rettungsringe in einem Meer aus Unbestimmtheit, in dem Perspektiven verschwimmen, Figuren auf- und abtauchen und zeitliche Abläufe sich überlagern wie Wellen.

Dennoch gelingt es dir, Bruchstücke zu verknüpfen, zu einem Narrativ zusammenzufügen. Aus dem Chaos taucht eine Protagonistin auf, die im Zentrum der strudelnden Erzählung steht. Vordergründig körperlich schwer erkrankt, im Delirium, scheint sie jedoch vor allem eine seelische Last zu tragen. Sie bewegt sich zwischen Schlafen und Wachen, Leben und Tod. Märchen und Mythen ragen in diesen Dämmerzustand hinein. Die Protagonistin greift nach etwas und erfasst die Hand einer Frau, die vielleicht Anästhesistin ist, vielleicht aber auch ein „weiblicher Cicerone“ [v], der sie geleitet auf dem Weg zum Hades.

Eine Erinnerung entfaltet sich und ist viel klarer als die zerfallende Gegenwart.[vi] Die Protagonistin scheint daran zu kranken, die Vergangenheit nicht loslassen zu können. Sie steht an der Schwelle und hat sich umgeschaut wie einst Orpheus. Doch wer sich umschaut nach dem Reich der Toten, wo alles für immer vergangen ist, droht sich dem Vergangenen anzuschließen, für immer.[vii] Die Protagonistin entrinnt diesem Schicksal nur knapp. Sie folgt der Spur des Schmerzes zurück in das Leben. Wo Schmerz ist, war schließlich einmal Hoffnung.[viii] Sie erwacht jäh wieder auf der Seite der Grenze, auf der Uhren regelmäßig ticken und Märchen und Mythen fest zwischen Buchdeckeln stecken. Die Welt breitet sich hinter einem Fenster aus und sie ist schön.[ix]

Du hast die zweite Stufe erklommen und verstehst, dass es um das Loslassen-Müssen beim gleichzeitigen Nicht-Loslassen-Können geht und um die Zerreißprobe, die sich daraus ergibt. Das menschliche Dilemma schlägt sich nieder als lebensgefährlicher körperlicher Konflikt. Das ergibt Sinn, noch bevor du dich daran erinnerst, dass es sich bei Christa Wolf um eine der wichtigsten Autorinnen der DDR handelt.

Christa Wolf, „Der geteilte Himmel“, DDR-Prosa. Eine Autorin, deren Ideale von der Wirklichkeit im real existierenden Sozialismus infrage gestellt wurden.[x] „Leibhaftig“ ist eines ihrer späten Werke, in dem sie sich noch einmal auseinandersetzt mit dem Zusammenbruch der DDR. Ein diffus autobiographisch geprägter Rückblick, der allzu konkrete Hinweise auf den Zusammenhang mit dem Leben der Autorin vermeidet.[xi] Immerhin, die Handlung spielt in einem nahen Teil der Welt, in der Menschen auf der Flucht erschossen werden.[xii] Dieser Hintergrund verleiht den Worten der Figuren eine zusätzliche Qualität, wenn sie alles verloren geben, „jedenfalls für diese Epoche. Sie war ungeeignet für unser Experiment.“[xiii] Du hast eine weitere Stufe des Verstehens erreicht, weißt nun also, um welche Art Enttäuschung es hier geht. Ist damit die Sache nicht vollbracht?

Verstehen endet nicht mit dem letzten Satz eines Textes. Wenn Sinn in einem Bewusstsein entsteht, hallt er auch darin nach. Christa Wolf gelingt es aus dem eigenen Erleben etwas Universales zu extrahieren und in Textform zu bannen – Hoffnung, Enttäuschung, Schmerz. All das setzt du in Beziehung; nicht nur mit der Welt im Allgemeinen, sondern vor allem mit dir selbst. Das Verstehen wird persönlich und diese Stufe ist schwer vorhersehbar und kaum planbar. Vielleicht existiert neben dem grammatikalischen Interpretieren und dem psychologischen Interpretieren noch so etwas wie emotionales Interpretieren?

Wie auch immer, der Text ist verstanden, endlich verstanden. Doch sei ehrlich, war der Weg bis hier hin wirklich so gradlinig wie beschrieben? War es wirklich eine Leiter, die du nur hinaufsteigen musstest, um das Ziel zu erreichen? Hast du nicht vielmehr einen Faden aufgegriffen und bist ihm gefolgt und hast festgestellt, dass er mit anderen Fäden verflochten ist, und all diese Fäden hast du wiederum verknüpft mit eigenen Fäden zu einem Muster? Wir weben Sinn mit allem, was uns zur Verfügung steht – unablässig, unbewusst – und am Ende ist da ein Text. Text, von lateinisch „textum“, „Gewebe“ oder „Geflecht“.[xiv]


Über die Autorin: Andrea Sippel, Jahrgang 1986, kann mit Texten besser als mit Menschen. Steht mit Sprach- und Literaturwissenschaft aber auf Kriegsfuß. Hat es irgendwie geschafft, an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg mit einer medienwissenschaftlichen Arbeit über amerikanische Filme den Grad Diplom-Germanistin zu erwerben. Studiert jetzt Rechtswissenschaften, um sich und die Welt komplett zu verwirren.


Die Lesung einiger Auszüge aus “Leibhaftig” ist auf unserem Blog unter folgendem Link zu finden: Christa Wolf: “Leibhaftig”, gelesen von Verena Häseler.


[i] Vgl. Glück, Helmut; Rödel, Michael (Hg.) (2016): Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart, S. 707.
[ii]Das sog. Infinite-Monkey-Theorem besagt, dass ein Affe, der über eine unendliche Zeitspanne hinweg blindlings auf einer Schreibmaschine tippt, nahezu sicher irgendwann zufällig alle Texte dieser Welt reproduziert haben würde. Es handelt  sich um ein mathematisches Gedankenexperiment, dass eine Vorstellung von Unendlichkeit  vermittelt und hilft Wahrscheinlichkeiten einzuordnen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Infinite-Monkey-Theorem abgerufen am 08.02.2021).
[iii]Folgende Textausschnitte liegen im Seminar vor und dienen als Grundlage: Wolf, Christa (2009), Leibhaftig,  Frankfurt am Main, S. 53-55 und S. 170-178.
[iv] Vgl. Schleiermacher, Friedrich (1977), Hermeneutik und Kritik, Frankfurt/Main, S. 97.
[v] Wolf, Christa (2009), Leibhaftig, Frankfurt am Main, S. 55.
[vi] Vgl. Wolf, Leibhaftig, S. 174.
[vii] Vgl. Wolf, Leibhaftig, S. 172.
[viii] Vgl. Wolf, Leibhaftig, S. 177.
[ix] Vgl. Wolf, Leibhaftig, S. 178.
[x] Vgl. Lutz, Bernd; Jeßing, Benedikt (Hg.) (2010): Metzler Lexikon Autoren, Stuttgart, S. 838.
[xi] Vgl. Hilmes, Carola; Nagelschmidt, Ilse (Hg.) (2016): Christa Wolf Handbuch, Stuttgart. S. 229.
[xii] Vgl. Wolf, Leibhaftig, S. 53.
[xiii] Wolf, Leibhaftig, S. 176.
[xiv] Vgl. Glück, Metzler Lexikon Sprache, S. 707.

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