Ein Kommentar zur Wissenschaftlichkeit Marx’ Philosophie

Marx‘ Philosophie ist – wie fast alle europäischen Philosophien seiner Zeit und teils bis heute – extrem eurozentrisch. Seine Ideen und Analysen beziehen sich ausschließlich auf eine sich industrialisierende Welt europäischen (vor allem englischen) Zuschnitts, was er selbst in späteren Jahren auch reflektierte. Darüber hinaus galt Marx als sehr selbstgefällig, betrachtete andere Denker*innen seiner Zeit allenthalben ironisch-provokant. Das zeigt sich besonders zugespitzt auch darin, dass er andere Denkmodelle nicht einmal ernsthaft diskutierte. Er stufte seine Geschichtsbetrachtung, in der er jede Entwicklung ausschließlich als Folge von Produktionsprozessen (Historischer Materialismus, Engels) sah, als wissenschaftlich fundiert im Range von Naturgesetzen ein, die nicht hinterfragbar seien.[1] Aber gerade dadurch wird deutlich, dass er unwissenschaftlich denkt. Diesem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit möchte ich in diesem Essay nachspüren.

Marx wurde in seinen Studienjahren in Berlin stark von Hegel und später auch durch Feuerbach beeinflusst, schloss sich jedoch nie den Linkshegelianern an. Von beiden (Hegel und Feuerbach) hatte er sich  mit Beginn seiner eigenständigen Positionierung, etwa den Pariser Manuskripten, abgewandt. Die oft geäußerte Meinung, Marx hätte die Hegelsche Dialektik übernommen, ist nach seiner eigenen Auffassung durchaus falsch. Marx selbst schreibt im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals: „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbstständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“[2]

So ist Marx anti-idealistisch, ein monistischer Materialist, der den Geist nur als ein Abbild materieller Gegebenheiten begreift, ohne ursprüngliche Bedeutung. Er begriff seine Dialektik als entmystifiziert, indem er das, was bei Hegel Geist war, durch Arbeit ersetzte. Mit Engels hatte er später eine Art Naturdialektik (Historischer Materialismus i.b.a. Naturgeschichte und Naturphilosophie, Produktionsprozess ausschließlich Gesellschafts- und Wesensbestimmend) als universal gültiges Prinzip konstruiert. Diesen Zusammenhang sah er auch in einer Negation der bestehenden Verhältnisse die Notwendigkeit eines revolutionären Umbruchs.

Die philosophische Wende ist bei Marx der Paradigmenwechsel, den Menschen nicht als rationales, geistiges Wesen mit Bewusstsein sondern als ein produzierendes Wesen zu betrachten, das, im Gegensatz zum Tier, die Bearbeitung der Natur notwendig zu seiner Erhaltung und Reproduktion durchführt, also produziert. Die sozialen Verhältnisse sind hier eng verknüpft mit den Produktivkräften. Mit dem Erwerben neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten, wie  Marx es in Das Elend der Philosophie[3] beschreibt.

Nun, es ist sicher richtig, dass mit der Veränderung der Produktionsweise neue Herausforderungen an den Menschen gestellt werden. Alte Arbeitsformen fallen weg, neue entstehen. Und es gibt immer bestimmte Produkte, die die Haupttreiber dieser Entwicklungen sind. Zu Marx‘ Zeiten war es Handmühle oder Dampfmühle, später kam die Elektrifizierung, das Auto, dann der Computer und das Internet dazu, und heute stehen wir vor der Digitalisierung der Welt. All diese „Neuen Welten“ beeinflussen schließlich die sozialen und politischen Verhältnisse, z.T. auch im Marx‘schen Sinne. Die Digitalisierung wird nicht durch flächendeckende Hochgeschwindigkeitsnetze definiert, diese so scheint es, sind die Grundlage, derzeitiger politischer Popularisierung. Vielmehr wird es die radikale Umgestaltung der Arbeitsprozesse sein, die sie bestimmt, dass u.a. die heutige Bindung der Steuer an Arbeit (Einkommenssteuer) obsolet wird, weil lohnabhängige Arbeiten bei steigenden Produktivkräften immer weniger werden. Die Steuerbindung sollte daher an die Wertschöpfung gekoppelt werden, um dem Menschen künftig ein ausreichendes wohlstandsorientiertes Leben zu ermöglichen. Und es ist, prognostiziert man diese Entwicklung, durchaus denkbar, dass nicht nur menschliche Arbeit automatisiert, sondern durch künstliche Intelligenz gar ersetzt wird, die in einem späteren Schritt auch die gesellschaftliche Führung übernehmen könnte. Den Menschen bleibt dann Kunst, Liebe, Empathie und Küssen, Flexibilität und Fehleranfälligkeit.[4] Die Frage, ob künstliche Intelligenz das Leben, zumindest das ökonomische Leben, besser oder schlechter macht sei dahingestellt. Schaut man die Welt an, scheinen künstliche Intelligenzen die einzig möglichen Garanten einer weltweit friedvollen Gesellschaft zu sein, da sie nur nach Kriterien der Vernunft arbeiten. (Kant hatte diese Vernunftzumutung in Kritik der reinen Vernunft dem Menschen zugeordnet und ihn damit hoffnungslos überfordert).

Insofern hatte Marx mit seiner o.g. Grundfestellung des historischen Materialismus Recht. Auch hatte er die durch Kapital respektive diebürgerliche Bourgeoisie zwangsläufig getriebene Globalisierung mit der Folge einer Kulturvernichtung bzw. -vereinheitlichung richtig prognostiziert. Sein Postulat einer zwingend sichbekämpfenden Klassengesellschaft in Form einer herrschenden und beherrschten Klasse ist im Grundsatz richtig (heute die Spaltung wenigen Reichen, vielen Armen und eines unter Druck stehenden Mittelstandes). Jedoch bewertet es nicht die Lebensqualität im Sinne einer freien und selbstbestimmbaren Lebensform, die trotz dieser Verhältnissen ansatzweise erreicht werden kann und konnte. Dass Lebensqualität weltweit noch im Argen liegt, ist unbestritten. Trotzdem ist und bleibt sie ein erstrebenswertes Ziel. Zumindest dann, wenn man sie nicht an den Selbstständigkeitsanspruch qualitativer Lebensgestaltungfähigkeit bindet, den die Frankfurter Schule[5] postuliert, der auch eine Überforderung hinsichtlich der Durchdringung gesellschaftlicher Prozesse für den Durchschnittsbürger wäre.

Das radikale Klassendenken Marx‘ ist jedoch seiner Zeit geschuldet. Seine schein-wissenschaftlichen Folgerungen historischer Prozesse kennen nur Sopran und Bass, keine Tonlagen dazwischen. Dass es neben einem Klassenkampfauch die Möglichkeit – oder wie heute sichtbar – Notwendigkeit einer gemeinsam verhandelnden Zielorientierung (Arbeitgeber – Gewerkschaft) zum Erfolg Aller geben könnte, wurde von ihm nicht nur abgelehnt, schlimmer noch, ignoriert. So schreibt Marx im Manifest der Kommunistischen Partei: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse“.[6] Soziale Ruhephasen sind bei ihm ein verschleierter Kriegszustand und eine gemeinsame Zielorientierung ein Unding. Er kennt nur Revolution oder Untergang einer Gesellschaft, welche nur durch die klassenlose Gesellschaft (Kommunismus) abwendbar ist. Marx geht ausschließlich vom Determinismus seines wissenschaftlichen Sozialismus aus, der eine klassenlose Gesellschaft prognostiziert, die in sich so selbstverständlich sei, dass sie auch keinen Staat mehr bräuchte, da das individuelle Interesse in das funktionale Interesse eingebettet würde. „Das „sozialistische Bewusstsein“ sollte sich dann in jedem entwickeln und ihn dazu führen, das Interesse aller als sein eigenes anzusehen“[7] Diese idealistische Sicht ist vielleicht individuell möglich, jedoch für Massen völlig illusionär. So ist Marx vom Hegelschen Weltgeistgedanke noch infiziert, jedoch unter der materialistischen Prämisse, nicht das Bewusstsein der Menschen bestimmt ihr Sein (Hegel) sondern das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein (Marx). Aber, dass die fein auf Begriffe bezogene dialektische Stufenleiter Hegels für materielle Prozesse übernommen werden könne, ist eine assertorische Aussage. Seine gesamte Ideologie (Politik, Recht und Staatsform) folgt schließlich ausschließlich ökonomischen Grundlagen.

In seinem Hauptwerk „Das Kapital“ startet Marx den Versuch, die Notwendigkeit des Untergangs der bürgerlichen Gesellschaft, die er mit Kapitalismus gleichsetzt, zu beschreiben. Durch diese Einseitigkeit, gepaart mit seiner Diffamierung der von ihm als bürgerliche Ökonomie karikierten Literatur seiner Zeit (John Locke, Adam Smith, John Stuart Mill, David Recardo), ist es nie zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung gekommen, obwohl sich Themen wie z.B. seine Werttheorie (Gebrauchswert, Tauschwert) schon bei Ricardo in der Arbeitswertlehre findet. Diese auf Ware bezogenen zentralen Begriffe bei Marx bestimmen den Gebrauchswert nach durchschnittlich benötigter Arbeitszeit zur Herstellung der Ware und den Tauschwert nach dafür eintauschbaren Waren, wobei Geld für Marx auch Ware ist. Auch tritt in Erscheinung, dass Marx mit Dienstleistungen, die heute dominant sind, nichts anzufangen wusste. Sein Grundgedanke ist, dass der Wert der Arbeitszeit dem entsprechen müsse, was der Arbeiter braucht, um seine Arbeitskraft zu erhalten. Als dritter Wertbegriff ergibt sich der Mehrwert, der dadurch entsteht, dass der Tauschwert höher ist als der Gebrauchswert. Es sei der Kapitalist, der diesen Mehrwert erhielte und dadurch Kapital, das er wieder zur Produktion einsetzten könne, um seinen Reichtum zu mehren (Ausbeutung), im Gegensatz zum Proletarier, der nur über seine Arbeitskraft als Ware verfüge.

Diese allein auf den Produktionsprozess bezogene Werttheorie hat jedoch keine Bedeutung erlangt, durchgesetzt hat sich allein die Wertbestimmung nach Angebot und Nachfrage. Man dachte eben als Sozialist i.S. Kommunist oder Kapitalist i.S. Liberalist, und jeder verachtete aus Grundprinzipien den anderen. Lediglich wenige Versuche (Max Weber, Herbert Marcuse), dem Kommunismus eine menschengerechte Form unter Einbeziehung soziologischer und psychologischer Erkenntnisse anzudienen und vor allem die Individualität, sprich Freiheit des Einzelnen aus dem Klassenbewusstsein zu retten (z.B. Sartre in „Fragen der Methode“) wurden gewagt. Entsprechende Tätigkeiten waren für Marx nicht relevant. Ableitend von seiner Werttheorie glaubte er, dass der Kapitalismus durch seinen Rationalisierungszwang aus sich selbst heraus verenden würde. Diese Schlussfolgerung basiert auf der Arbeitswertlehre, dass nur die menschliche Arbeitskraft wertschöpfend ist. Den heute dominierenden ökonomischen Bereich der Dienstleitungen gab es zu Marx‘ Zeit noch nicht,  

Es ist richtig, dass Kapital aus entfremdeter Natur durch entfremdete Arbeit ursprünglich und dann auch fortlaufend entsteht. Dies ist zum einen ein Kulturprozess und zum anderen ein Sozialprozess, der in seinen Wirkungen auf die Glückseligkeit des Menschen zielt, aber nicht grundsätzlich, etwa durch soziale Leistungen, veränderbar ist. Wenn nun aber der Grundsatz der Entfremdung verändert würde, also das Ergebnis des Arbeitsprozesses allein beim Arbeiter bliebe, fehlte zwangsläufig das initiative Moment, das aus Arbeit entstandene und gebündelte Kapital, das nun nicht mehr als Eigenkapital in privater Hand läge, in die Idee neuer Produkte oder allgemeiner Wertsteigerungen umzusetzen. Ja, wer sollte sich als Initiator bemüßigt fühlen? Dieser müsste immer erst alle, zumindest alle jeweils Beteiligten, von seiner Idee überzeugen bevor er initiativ werden könnte. Das dürfte gerade bei innovativen Prozessen unmöglich sein. Diese basieren auf Ideen, nicht auf Konsens. Nahezu alle bahnbrechenden Innovationen wurden wesentlich von Einzelpersonen initiiert. Das von Marx postulierte Klassenbewusstsein dürfte, vor allem in der vom Individualismus geprägten westlichen Welt, unmöglich sein. Alle bisherigen Versuche, die kommunistische Idee umzusetzen, haben versagt. Nur in zumeist „unterentwickelten“ Staaten gab es zunächst Erfolge, die aber eher auf das Durchsetzungsvermögen diktatorischer Staatsformen (oft durch eine Zentralfigur geprägt) als auf die ökonomische Struktur zurückzuführen sind. Ältere Systeme (China, Vietnam, Kuba) konnten sich nur dadurch stabilisieren und wirtschaftlich erfolgreich sein, dass sie einen Staatskapitalismus einführten. Lebewohl klassenlose Gesellschaft. Schlicht: Marx übersieht die Funktion des Kapitalisten als Unternehmer und die Funktion des Kapitals als geistigen Rohstoff. Dass die sicher richtig von ihm erkannten unterschiedlichen Interessenlagen Kapital versus Arbeit nicht in Extreme verfallen, dazu war die von Erhard eingeführte Idee der „Sozialen Marktwirtschaft“[8] gut geeignet. So hätte die „Unsichtbare Hand“ im Sinne Adam Smith‘s vor Verletzungen geschützt sein können. Leider muss aber festgestellt werden, dass sie den spekulativen Verlockungen der Börse und (schein-)-geldschaffenden Privatisierungen sowie dem globalen Wettstreit geopfert wurde, der, unabhängig vom ökonomischen oder politischen System, reinen Machtinteressen folgt.   

Und schließlich ist, um es mit Sartre auf den Punkt zu bringen,

Philosophie nur so lange wirksam, wie die Praxis, der sie entstammt, vorhanden ist und sie trägt und erhellt. Sie wandelt sich jedoch, sie verliert ihre Einzigartigkeit, sie entäußert sich ihres ursprünglichen und epochemachenden Gehalts in dem Maße, in dem sie nach und nach die Massen durchdringt, um in ihnen und durch sie ein allgemeines Emanzipationsmittel zu werden .[9]


[1] Marx/Engels, Digitale Bibliothek, Band 11, S. 3318

[2] Marx/Engels Dietz-Verlag DDR, Nachwort zur 2. Auflage in „Das Kapital“

[3] Marx, Das Elend der Philosophie

[4] Schnabel,  „Was macht uns künftig noch einzigartig“ in Die ZEIT Nr.37/2018

[5] Adorno, Negative Dialektik

[6] Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei,

[7] Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft, S. 76

[8]Müller-Armack: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik,. Bern 1976

[9] Sartre, Marxismus und Existentialismus, S. 8

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