Mixed Reality und die Möglichkeiten virtuellen Lehrens und Lernens

„Mixed Reality beschreibt die Kombination aus virtuellen Umgebungen und natürlichen Benutzerschnittstellen. Das Sichtfeld der nutzenden Person wird hierbei über Head Mounted Displays durch Kopfbewegungen gesteuert. Datenhandschuhe ermöglichen die Interaktion mit virtuellen Objekten und omnidirektionale Böden erlauben eine unbegrenzte Fortbewegung durch virtuelle Welten.“[1]

Was für die meisten vor einigen Jahren – und für einige auch heute noch – wie Science Fiction und Zukunftsmusik klingt, hat seine Ursprünge bereits vor über 150 Jahren. So fand der Physiker Sir Charles Wheatstone 1838 erstmals eine Möglichkeit, durch unsere binokulare Wahrnehmung und das Darstellen eines Bildes in zwei leicht versetzten Winkeln, einen 3D Effekt eines Bildes zu kreieren.[2] Zwar brauchte es seine Zeit, aber durch stetige Arbeit und der ‚phantastischen Idee‘, irgendwann einmal in eine virtuelle Realität abtauchen zu können, fanden bereits in den 1980er Jahren die ersten Virtual Reality Brillen ihren Weg in die Arcade-Hallen Nordamerikas und in den späten 2010er Jahren auch in die Privathaushalte begeisterter Videospieler*innen in Europa. Dennoch dauerte es bis ins Jahr 2020, bis das Potenzial von Videospielen auch Einzug in die Pädagogik fand und in Amerika ein ‚Videospiel auf Rezept‘ gegen ADHS-Symptome eingesetzt werden sollte.[3] Der vorliegende Beitrag über eben dieses Potenzial von Videospielen mit Fokus auf Mixed Reality für Lehr- und Lernprozesse stellt dabei die Fragen, ob und wie sich solche Errungenschaften aus der Unterhaltungsindustrie in eine zeitgemäße Didaktik verschiedener Wissenschaftsbereiche übertragen lassen, welche Hürden auch heute noch zu überwinden- und worin genau das Potenzial von Mixed Reality für Lehr-Lern-Prozesse überhaupt besteht?

Bevor die Frage über die Möglichkeiten virtueller Lernmöglichkeiten beantwortet werden kann, stellt sich zunächst die Frage nach den Bedingungen, Zielen und Einsatzbereichen, in denen Mixed Reality positiv auf einen Lerneffekt einwirken kann:

Bedingungen und Begründungen

Um einen gewinnbringenden Einsatz von Mixed Reality gewährleisten zu können und sich nicht auf der gegenwärtigen 2D-Perspektive von Lernsoftware auszuruhen, die sich auf einem flachen Bildschirm abspielt, muss zunächst die entsprechende und kostenintensive Hardware vorhanden sein. So benötigt man neben den oben aufgeführten Geräten (VR-Brille, ein Laufband, auf dem man frei in jede Richtung laufen kann und ein Eingabegerät wie Datenhandschuhen oder auf die Mixed Reality angepasste Controller) zusätzliche Software, die für die Programme vorgesehen sind und das entsprechende Know-How zur Installation all dessen.[4] Die Vorteile, die man hierin sieht, liegen in der höheren Immersion der Spiel- und Lernerfahrung, also in dem gesteigerten Gefühl ‚in dem Spiel und der virtuellen Realität zu versinken‘ und dem daraus resultierenden „sense of being there“[5]. So betrachtet man in der Entwicklung von Mixed Reality Maus, Bildschirm und Tastatur heute als ‚unnatürliche Schnittstellen‘ zwischen unserem Erleben und der Virtualität der Spiele, die eine höhere Abstraktion der Bewegungen und Wahrnehmungen voraussetzen als die ‚natürlichen Schnittstellen‘, über die wir instinktiv mit Kopf-, Bein- und Handbewegungen die virtuelle Umwelt wahrnehmen und mit ihr interagieren können.[6]

Ziele und Einsatzbereiche

Die Einsatzbereiche von Mixed Reality sind ebenso vielseitig wie die damit verbundenen Ziele. Man verspricht sich neben der Veranschaulichung von Prozessen, Situationen und Mechaniken auch das Potenzial der Darstellung (noch) unmöglicher Szenarien. So könnte man in technischen Bereichen als Gruppe durch eine Fabrik und in bestimmte Geräte hineingehen und sich die dort ablaufenden Mechanismen in Zeitlupe ansehen während man diese bespricht, könnte riskante oder tödliche Phänomen wie einen Vulkanausbruch oder einen Störfall in einem Atomkraftwerk aus nächster Nähe betrachten, durch das alte Pompeji spazieren oder eine Wanderung auf dem Mars unternehmen. Auch ist die Visualisierung von für das Auge unsichtbaren Prozessen wie Luftströmungen oder das Fortschreiten des Klimawandels im Zeitraffer möglich.[7]

Diese Beispiele sind nur ein kleiner Auszug dessen, was kreative Köpfe sich als Anwendungsmöglichkeiten in ihre Fachbereiche vorstellen könnten. Dabei kann „der Einsatz virtueller Lernumgebungen [in] verschiedenen Stufen des Lernens dienen“[8]. Dies beträfe erstens die Exploration fiktiver Welten, die im physisch Realen nicht umsetzbar sind. Auch könnten anspruchsvolle Visualisierungstechniken den initialen Verstehensprozess komplexer Lerninhalte unterstützen und drittens eine vorletzte Stufe des Wissenstransfers darstellen, die sich in der Übung realer Handlungen im virtuellen Raum manifestieren, bevor diese im physisch realen Kontext angewendet werden müssten.[9]

Lerneffekte von Mixed Reality auf die Probe gestellt

Der positive Effekt von virtuellen Realitäten auf Lehr- Lernsituationen wird aufgrund seines immersiven Charakters und der großen Faszination, die solche Möglichkeiten auf uns haben, meist bereits im Vorhinein unterstellt und somit sind Studien und experimentelle Untersuchungen als Beweis hierfür eher Mangelware.[10] Hier wollten die Autorinnen durch ihren Beitrag „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften – das Potenzial von Mixed Reality für Lehr- und Lernprozesse“ zur Schließung der Lücke beitragen und initiierten eine quasi-experimentelle Untersuchung zu den tatsächlichen Auswirkungen der Mixed Reality.

In der Untersuchung wurde Proband*innen die Aufgabe gestellt, sich virtuell durch ein Labyrinth zu bewegen und sich dort die Position verschiedener Gegenstände einzuprägen. Die Proband*innen wurden dabei in zwei Gruppen aufgeteilt: Während die eine Gruppe das Labyrinth auf ‚unnatürlichen Schnittstellen‘, also auf einem Bildschirm erkundete, bewegte sich die zweite Gruppe mittels Mixed Reality Hardware durch die virtuelle Umgebung.[11] Ziel war es, herauszufinden, ob der immersive Effekt der Mixed Reality tatsächlich einen positiven Einfluss auf die Ergebnisse der darauffolgenden Abfrage der Positionen von zuvor gefundenen Gegenständen hätte.[12]

Das ernüchternde Ergebnis stand daraufhin schwarz auf weiß auf dem Papier. Zwar hatte die Gruppe, die die Aufgaben in der Mixed Reality absolvierte, herausragende Ergebnisse in Bezug auf Immersion und positiven Gefühlen gegenüber der Aufgabe, insbesondere durch die Faszination des erstmaligen Erlebens virtueller Realität über natürliche Schnittstellen – dennoch lagen die Werte der Abfrage, wo welche Gegenstände versteckt gewesen waren, deutlich unter denen der ersten Gruppe, die das Labyrinth auf bekanntem Wege beschritten.[13]

Diese Ergebnisse erklärten sich für die Versuchsleiter wie folgt: Die Faszination, welche zu der positiven emotionalen Wirkung der Mixed Reality beiträgt, birgt viele Störfaktoren für den Merk- und Lernprozess.[14] Zudem war es für viele Probanden das erste Erleben von Mixed Reality, wodurch es durch die aufgesetzte Brille, das Hören von Geräuschen über Kopfhörer aber auch die Geräusche des Laufbandes zu massiven Ablenkungen gekommen sein kann.[15]

Ein weiterer Faktor könnte auch die ungewohnte Benutzung der Hardware sein. So erscheint es zunächst logisch, dass die Bedienung von Mixed Reality Devices, also den ‚natürlichen Schnittstellen‘ intuitiv sei, es stellte sich jedoch heraus, „dass die Steuerung virtueller Lernumgebungen […] zumindest bei Erstbenutzung eine Aufgabe ist, die kognitive Ressourcen benötigt“[16]. Folglich werden für die Bedienung kognitive Ressourcen benötigt, welche für die Lernaufgabe nicht mehr zur Verfügung stehen.

Quo vadis Mixed Reality?

„Das vermeintlich unbefriedigende Ergebnis der schlechteren Leistungen im Mixed Reality-Szenario verdeutlicht paradoxerweise das große Potenzial, was sich hinter der neuen Technologie verbirgt: Die realistische Nachbildung einer späteren Anwendungssituation des im schulischen oder hochschulischen Kontext erworbenen Wissens.“[17]

So erkennen die Autoren zwar die Herausforderungen, die Mixed Reality birgt, geben jedoch auch zu bedenken, dass der Mensch vielseitig lernfähig ist und mit steigendem Normalitätsfaktor der Mixed Reality auch die Kompetenz der Masse wachsen wird. So zeichne sich auch die physische Realität durch ein hohes Maß an Komplexität und sachfremder Beanspruchung aus, auf die uns simulierte Realität wechselseitig vorbereiten könne.[18] Somit bedarf es weiterhin moderner Forschung und Untersuchungen dessen, wie die Mixed Reality genutzt werden kann und muss, um ihre zahlreichen Potenziale entfalten zu können und den versprochenen Mehrwert zu erbringen.

Über den/die Autor*in: Hannes Wicke studiert Germanistik und Philosophie für das Gymasiallehramt im 10. Semester. Seine Interessen gelten besonders dem Bereich der Philosophiegeschichte, der Sprachphilosophie und Philosophiedidaktik. Der vorliegende Beitrag wurde im Rahmen des Seminars „Unbedingte Universität(en). Philosophische Reflexion zur Geschichte, Gegenwart und Zukunftsperspektive einer Institution“ (Verena Häseler) verfasst.


[1] Schuster, Katarina, Richert, Anja & Jeschke, Sabine (2015): „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften – Das Potenzial von Mixed Reality für Lehr- und Lernprozesse“ in: Baum, Constanze & Thomas Stäcker (Hrsg.): „Grenzen und Möglichkeiten der Digital Humanities“, Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, Wolfenbüttel.
[2] Vgl. Erl, Josef (2020): „Die Geschichte der Virtual Reality“, abrufbar unter: https://mixed.de/virtual-reality-geschichte/#Urahnen_der_VR_Vom_Panoramatheater_bis_zur_Blue_Box, zuletzt aufgerufen am 14.08.2020
[3] Vgl. Gehm, Florian (2020): „Erstmals Videospiel als Medikament in den USA zugelassen“, abrufbar unter: https://www.welt.de/wirtschaft/webwelt/article209663915/EndeavorRX-Videospiel-auf-Rezept-soll-gegen-ADHS-helfen.html, zuletzt aufgerufen am 14.08.2020
[4] Vgl. Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 218 f.
[5] Vgl. Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 218 f.
[6] Vgl. Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 217 f.
[7] Vgl. Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 216 f.
[8] Vgl. Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 216 f.
[9] Vgl. Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 217.
[10] Vgl. Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 219.
[11] Vgl. Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 223.
[12] Vgl. Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 223 f.
[13] Vgl. Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 228.
[14] Vgl. Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 229.
[15] Vgl. Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 229.
[16] Vgl. Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 229.
[17] Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 230.
[18] Vgl. Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 230.

Abbildungen/Grafiken:
Schuster, Richert & Jeschke, „Neue Perspektive für die Erziehungswissenschaften“, S. 228.

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