Der zunehmende Fokus auf die digitale Lehre an Universitäten kommt meistens einher mit einem impliziten Versprechen von Modernisierung, Effizienz und vor allem Freiheit. Freiheit, auch aus der Ferne auf Information zugreifen zu können, Freiheit, sich den Tag flexibler einteilen zu können und Freiheit von den scheinbar veralteten physischen Einrichtungen der Universität. Während die Digitalisierung auf jeden Fall traditionelle Strukturen destabilisiert und so Grenzen aufhebt, ist es notwendig aufzuzeigen wo diese digitale Freiheit bestehende Problemfelder der Gesellschaft verschlimmert oder neue Schwierigkeiten aufwirft, die bisher weitgehend unbeachtet bleiben.
Das erste dieser Problemfelder ist das allmähliche Verschmelzen von Arbeitsalltag und Freizeit. Obwohl der Tagesablauf von Studierenden und Lehrenden im Vergleich zu vielen anderen Berufen schon lange relativ ungeregelt ist, verstärkt die digitale Lehre diese Flexibilität maximal und macht es fast unmöglich, Arbeitszeit von freier Zeit zu trennen. Seinen Ursprung hat dieses Problem in der permanenten Erreichbarkeit, die die digitale Lehre mit sich bringt. Kommunikation wird durch digitale Kanäle vielfach beschleunigt und so verändern sich Anforderungen, Aufgaben und Vereinbarungen oft sehr kurzfristig. Ständig erreichbar zu sein bedeutet für Lehrende und Studierende, ständig zur Leistung bereit sein zu müssen und nie mit der Arbeit abschließen zu können. Das äußert sich weniger in Vorschriften, die diese Hyperaufmerksamkeit diktieren, und mehr in der Gefühlslage der Einzelnen. Viele werden nervös, wenn mehrere Stunden lang das Email-Postfach unbeaufsichtigt bleibt und bekommen das Bedürfnis, digital in Kontakt zu treten. Dieses Bedürfnis kann nach Herbert Marcuse als ein repressives, „falsches Bedürfnis“ [i] bezeichnet werden. Es hat seinen Ursprung nicht in der Person selbst, sondern dient dem herrschenden Status Quo und wurde der Person deshalb anerzogen. Die Praxis der digitalen Lehre erschafft also ein falsches Bedürfnis nach Beschleunigung und Gleichzeitigkeit, das die Arbeitszeit nie enden lässt und somit zu zusätzlicher Belastung führt.
Außerdem ist das Medium der digitalen Lehre zunehmend identisch mit dem Medium der privaten Entspannung. Während der Inhalt der konsumierten Medien und geführten Konversationen im digitalen Raum sich unterscheidet, je nachdem, ob Privates oder Universitäres verhandelt wird, bleibt die äußere Form des Zeitvertreibs gleich. Das trifft ganz besonders auf Disziplinen wie die Geisteswissenschaften zu, in denen viel (digital) gelesen und geschrieben wird. Mit den Worten Quinn Nortons lässt sich sagen, dass wir in einer Welt leben, in der man dasselbe tut, wenn man sich verliebt, wenn man Krieg erklärt und wenn man seine Steuererklärung macht: man tippt. [ii] Das hat zur Folge, dass das Bewegungsvokabular der Arbeit nicht mehr trennbar ist von dem der Freizeit und somit der Arbeitsalltag am Ende eines Tages nicht zur Ruhe gelegt werden kann. Hinzu kommt die räumliche Nähe, die die digitale Lehre zwischen Arbeitsplatz und Rückzugsort schafft. Jeglicher private Raum wird verdrängt und zum Studienort umfunktioniert. Der Weg vom Laptop ins Bett reicht oft nicht, um das Gefühl der Entspannung zu entwickeln und der gesamte Tagesablauf wird zu „einem unbewußten, rhythmischen Automatismus – ein Prozeß, der dazu parallel läuft, daß die Beschäftigungen einander ähnlich werden.“ [iii]
An dieser Stelle sei angemerkt, dass diese Problematik sich in manchen Fällen auch auf gegenteilige Weise äußert, wenn statt einer permanenten Arbeitssituation eine Abschottung gegenüber Leistungsanforderungen eintritt. Wenn Lehrende oder Studierende die Freizeit nie beenden und sich nicht zur Arbeit überwinden können, kann das auch eine Reaktion auf die entgrenzte Leistungssituation sein: Anstatt sich auf die überfordernden Gegebenheiten einzulassen, verweigern sich manche der Arbeit insgesamt. Es sind also sowohl die pausenlose Leistung als auch die fehlende Leistung Ausdrücke desselben Missstandes.
Abgesehen von diesem Verlust der persönlichen Unabhängigkeit führt die digitale Lehre auch zu verstärkter Abhängigkeit von kapitalistischen Strukturen. Ein Aspekt dieser Beziehung zeigt sich in der Verstärkung sozialer Ungerechtigkeit. Die digitale Lehre macht Studierende abhängig von technischen Geräten, die meistens nicht von der Universität zur Verfügung gestellt werden. Zugang zu leistungsfähigen Computern ist abhängig von finanziellen Möglichkeiten und erschafft so eine weitere Hürde für Personen mit einkommensschwächerem Hintergrund auf ihrem Weg ins Studium. Der Besitz moderner Technologie wird von Universitäten meistens als Grundvoraussetzung angenommen, jedoch nicht als Grundrecht behandelt. Es gibt also keine institutionellen Mechanismen, die Chancenungleichheit in dieser Hinsicht ausreichend bekämpfen könnten. Initiativen in diese Richtung existieren zwar, so können vielerorts Rechner ausgeliehen oder zu vergünstigten Studentenpreisen gekauft werden, allerdings bleibt es bei geringerem Budget auch trotz Unterstützung schwer, mit wohlhabenderen Studierenden und deren Geräten mitzuhalten.
Zudem bedeutet die konstante Nutzung von technischen Geräten ein Verstärken des gesamtgesellschaftlichen Konsumzwangs. Da Studierende wie Lehrende auf den Besitz von einem oder mehreren Privatcomputern angewiesen sind, sind sie es auch, die laufend neue Geräte kaufen, um mit den stetig steigenden Anforderungen der Digitalität mithalten zu können oder um Geräte zu ersetzen, die aufgrund ihrer gezielt eingebauten kurzen Lebensdauer regelmäßig kaputt gehen. So trägt die Universität indirekt zum Trend der Wegwerfgesellschaft bei, die ständig der neusten technologischen Innovation hinterherjagt.
Es lässt sich also insgesamt sagen, dass die Freiheit, die die digitale Lehre verspricht, in vielerlei Hinsicht mit Verlusten und Einschränkungen verknüpft ist. Nicht nur werden Arbeitszeit und -ort entgrenzt und verschmelzen so mit dem Privaten, auch die Beziehung der Universität zu Kapitalismus und Konsumzwang wird durch die Nutzung des digitalen Raums gestärkt. Es stellt sich die Frage, ob nicht digitale Freiheit zumindest teilweise Freiheit von der Digitalität bedeuten würde, wie es Marcuse bereits in Bezug auf Wirtschaft und Politik feststellte. [iv] Es soll nicht ignoriert werden, dass die digitale Lehre auch Vorteile hat, aber es ist klar, dass die Digitalisierung in vielerlei Hinsicht zur Einschränkung und Belastung wird. Deshalb ist es notwendig, dass die digitale Lehre zu einem Aspekt der Lehre wird, der von Seiten der Universität und aller, die Teil an der Institution haben, kritisch gesehen und weiterentwickelt wird. Es gilt, den digitalen Raum und seine Nachteile ernst zu nehmen, Probleme aufzuzeigen und widerständische Strategien zu entwickeln, damit die Lehre und die Freiheit Hand in Hand gehen können, anstatt widersprüchlich zu sein.
Über den/die Autor*in: Chineye Udeani studiert in Kassel Philosophie und Visuelle Kommunikation. In ihren philosophischen wie auch ihren gestalterischen Arbeiten geht es darum, Alltägliches mit großen Ideen zu verknüpfen.
[i] Marcuse, Herbert (1994): Der eindimensionale Mensch, München, S.25
[ii] “Right now my field must tackle describing a world where falling in love, going to war and filling out tax forms looks the same; it looks like typing.” Norton, Quinn (2013): Quinn Said: ACM Web Science Talk, as written, https://www.quinnnorton.com/said/?p=721, letzter Zugriff: 25.06.2020.
[iii] Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S.47.
[iv] Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S.24.