Stellung beziehen, oder: Wider die neoliberale Okkupation der Bildung!

Habe Mut, Dich deines eigenen Verstandes zu bedienen und von der Vernunft öffentlich Gebrauch zu machen! Die Problematik des Stellungbeziehens, so könnte Mensch in Anlehnung an die von Immanuel Kant verkündeten Worte aus seiner legendären Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung [i] (1783) geneigt sein zu sagen, gehört zum ursprunghaften Kernanliegen einer aufklärerischen Philosophie, die ihr Interesse an politischer Mündigkeit, kollektiver Selbstbestimmung und sozialer Emanzipation öffentlich einklagt und damit die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse zum Tanzen bringt. Ein Rückblick auf die philosophischen Klassiker erweist sich als gewinnbringend, um Klarheit darüber zu erlangen, was es mit der Rede vom Stellung beziehen in Zeiten eines weltweit aufblühenden Rechtspopulismus und der neuesten Skandale von Polizeigewalt, Racial Profiling und Rassismus eigentlich auf sich hat und welcher demokratische Gebrauchswert kritischem, eingreifenden Denken zugestanden werden muss.

Um die Relevanz dieser, wie sich zeigen wird, gesellschaftlichen und politischen Problematik zu konkretisieren, erlaube ich mir an die philosophischen Wurzeln zurückzugehen. Die mit dem Zeitalter der bürgerlichen Aufklärung verbundene Forderung nach gleichberechtigten politischen Partizipationschancen für Alle, die mit der Pflicht nach kritischer Prüfung der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse einhergeht, bezieht ihre Legitimation, wie im Falle Kants, aus einer anthropologischen Argumentation. Das Gattungssubjekt Mensch entpuppt sich für Kant als ein zur Selbstbestimmung fähiges, rationales, freies und vernunftbegabtes Wesen, das nicht länger den mechanischen Naturgesetzen unterworfen ist, sondern seine Geschichte aus freien Stücken schreibt und deswegen im moralischen Sinne zur vollen Verantwortung für sein eigenes Handeln herangezogen werden kann. Spätestens aber seit der von Karl Marx ausgeführten dialektisch-materialistischer Gesellschaftsanalyse innerhalb seines Hauptwerkes Das Kapital. Zur Kritik der politischen Ökonomie [ii] wissen wir, dass der von Kant gegenüber der Menschheit erhobene Vorwurf einer selbstverschuldeten Unmündigkeit angesichts der sozialen Spaltungsprozesse, der Klassenhierarchien und ökonomischen Abhängigkeiten im realexistierenden Kapitalismus nicht aufrechtzuhalten ist, weil die individuelle wie auch kollektive Mündigmachung des Menschen von materiellen Bedingungen abhängt. An diesem Punkt kann deutlich werden, dass der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie als gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnismethodik die primäre Aufgabe zukommt, die der (Bildungs-)Philosophie angestammte Forderung nach praktischer Einmischung in die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse, die allenfalls der universellen Emanzipation der Gattung dienen soll, nicht verblassen zu lassen. Die Transformation der bürgerlich-idealistischen Philosophie in eine kritische Gesellschaftstheorie ist seit Marx mit der historisch-materialistischen Realanthropologie verknüpft. Indem sie sich in radikaler Absicht negativ auf die vorfindliche gesellschaftlich-politische Wirklichkeit bezieht, kann sie kritische, utopische Potenziale freisetzen. Der empirische Mensch kann die gesellschaftlich verursachte Entfremdung und die daraus resultierenden moralischen Katastrophen seiner Geschichte überwinden, sobald ihm die in den gesellschaftlichen Bedingungen schlummernden Emanzipationsmöglichkeiten erschlossen sind. Kurzum: Kritische Gesellschaftstheorie beansprucht die Koordination von Bildung, Politik und Gesellschaft. Die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse als fragwürdig und damit in letzter Konsequenz durch die Vereinigung von Denken und Handeln als veränderbar auszuweisen impliziert die Forderung nach Aufhebung der Fixierung auf gesellschaftlich erzeugte zweite Natur. Es geht darum, Gegenwart und Zukunft in ein dialektisches Verhältnis zu setzen, um die unteilbare Verantwortung für die Geschichte in die Hände der Menschheit zu legen.

Die Frankfurter Kritische Theorie hat diese Erkenntnis radikalisiert, indem sie die dialektische Verstricktheit des bürgerlichen Aufklärungsprojekts in gesellschaftliche Herrschaft mit Blick auf die polit-ökonomischen, sozialen und kulturellen Konsequenzen freigelegt hat. Die praktische Forderung des Stellungbeziehens hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn ihr eine Kritische Theorie an die Seite gestellt ist, die sich nicht auf die Analyse von Einzelphänomenen beschränkt, sondern vielmehr auf gesellschaftliche Gesamtzusammenhänge zielt und damit in letzter Konsequenz eine kritische Ursachenforschung betreibt. Schließlich wird deutlich, dass Aufklärung nur durch eine Radikalkritik in Permanenz zu bewerkstelligen ist, d.h. einer schonungslosen kritisch-reflexiven Aufklärung über die mit der bürgerlichen Aufklärung verbundenen bornierten Interessen. Stellung beziehen, um beim Thema zu bleiben, hat also etwas mit allgemeinpolitischen Reflexions- und Urteilskompetenzen zu tun, oder mit dem, was seit der Tradition der Aufklärung unter dem Begriff der Bildung verhandelt wird. Wer sich gegenwärtig mit dem Problem des ‘Stellungbeziehens’ beschäftigt, steht einem Bildungsproblem gegenüber. Was als politische Bildung in der Tradition der klassischen Aufklärungsphilosophie angelegt war, wird ihrer inneren Dynamik und ihrer genuinen Politizität beraubt. Die neoliberale Okkupation der Bildung dürfte diese Entwicklung befördern, weil Bildung unter dem Diktat des kapitalistischen Wertgesetzes zu einer gesellschaftlich isolierten Größe pervertiert wird.

Stellung beziehen bezeichnet aus bildungstheoretischer und -praktischer Sicht einen komplexen Vorgang, der sich durch die Anstrengung des kritischen Denkens, am besten des selber Denkens, einstellt und durch Andere oder durch Anderes angeregt wird. Stellung beziehen, so jedenfalls meine grundlegende These, konkretisiert sich in der Bildung, womit wir vor dem eigentlichen Problem stehen.

Die medial aufgeheizte Entrüstung über eine verwahrloste Jugend, die in Zeiten der Covid-19-Pandemie plündernd und partysüchtig durch deutsche Großstädte zieht, lenkt von den sozialen Problemen und den Schieflagen des deutschen Bildungssystems ab. Dass das weltweite politische Engagement gegen Rassismus und Polizeigewalt oder auch die Fridays for Future Bewegung eine im Kern von der Jugend getragene Protestwelle ist, scheint vergessen. Darüber hinaus wird in den aktuellen Diskussionen schlichtweg unterschlagen, dass das politische Desinteresse, die Apathie und Orientierungslosigkeit der Jugend auf gesellschaftlich verursachte Bildungsarmut hindeuten.    

Die Jugendforschung nimmt schon seit Jahrzehnten zur Kenntnis, wie intensiv die Strukturumbrüche der Arbeitsgesellschaft im Übergang von der fordistischen Gesellschaftsformation zum digitalen Kapitalismus in die Jugendphase hineinwirken. Es sind insgesamt soziale Phänomene wie Arbeitslosigkeit, soziale Exklusions- und Ausgrenzungsdynamiken, Resonanzstörungen und die Beschleunigung entgrenzter Vergesellschaftungsprozesse, die den Traum von fortwährender Prosperität und Chancengleichheit beenden. Die gesellschaftliche und politische Dimension von Bildungsfragen ist in den jüngsten Bildungsdiskussionen in den Hintergrund getreten. Es überwiegen wirtschaftliche Anpassungszwänge und das von Seiten der Politik forcierte Interesse an einer verbesserten Ausstattung von Humankapital und instrumentellen Qualifikationen für den kapitalistischen Arbeitsmarkt. Der eigensinnige Jugendliche, der gegen die Verwarenförmigung von Bildung und die vorherrschende Vergesellschaftungsform opponiert, passt nicht in das Bild einer neoliberalisierten Bildungs- und Leistungsgesellschaft. Das Problem liegt demnach tiefer.

Nicht erst seit den PISA-Ergebnissen ist bekannt, dass das dreigliedrige deutsche Bildungssystem auf wirkungsvolle Weise zur strukturellen Reproduktion von sozialer Ungleichheit und damit zur Ungleichverteilung von kulturellem Kapital beiträgt, aus denen sich ungleiche Zugangsmöglichkeiten im Zugriff auf materielle Güter wie auch auf gesellschaftliche Ressourcen ergeben. Folgt man den Ergebnissen einer internationalen kritischen Bildungsforschung [iii], dann stellt das Unterrichtssystem eine entscheidende Determinante für die Perpetuierung von Klassenhierarchien, Sozialstrukturen und Bildungsapartheid unterprivilegierter Gesellschaftsschichten, für die massive Ungleichverteilung von Klassenprivilegien, für die bürgerliche Kolonialisierung der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen, für die ideologische Verschleierung von machtgestützten hegemonialen Klasseninteressen wie auch für gesellschaftliche Herrschaftsstrategien auf dem Bildungsmarkt dar. In den Fokus geraten damit die Strukturbedingtheit von individuellen und gesellschaftlichen Bildungsprozessen wie auch bildungs- bzw. schulvermittelte Selektions- und Ausgrenzungsmechanismen. Es sollte also weniger darum gehen, die Jugend als eine neue Problemgruppe zu stigmatisieren. Vielmehr sollten diejenigen sozialen Entkoppelungs- und Desintegrationsprozesse im Kontext der kapitalistischen Modernisierung gesellschaftstheoretisch thematisiert werden, die auf das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen einwirken und die einen großen Teil der Jugendlichen von der Zone der Integration in die Zone der Vulnerabilität und Prekarität hinübergleiten lassen. Jedenfalls wird deutlich, dass über die soziale Integration der Heranwachsenden nicht erst auf dem Arbeitsmarkt entschieden wird. Die soziale (Aus)Sortierung erfolgt in den gesellschaftlich organisierten Bildungsinstitutionen. Der ökonomische Verdrängungswettbewerb hat die Bildungsinstitutionen längst erreicht. Politikverdrossenheit, Populismusanfälligkeit und Bildungsangst wirken nicht getrennt voneinander. Vielmehr besteht zwischen diesen Polen ein Verstärkungsverhältnis. 

Die Bildungsproblematik muss demnach in einem politisch-gesellschaftlichen Gesamtkontext verortet werden. Die Deformation von Bildung korrespondiert mit dem fortschreitenden Abbau des Sozialstaates und einer Neoliberalisierung der Bildungsverhältnisse, mit der Bildung, oder das, was von ihrer Idee noch übrig ist, unter die Imperative einer kapitalistischen Marktgesellschaft subsumiert wird. Ausgehend von den Studien einer kritischen Bildungstheorie [iv] zeigt sich, dass Bildung über die Zukunft einer demokratischen Gesellschaft entscheidet, deren Realisierung, wie Theodor W. Adorno einst so prägnant formulierte, von mündigen Menschen, damit eben von den politischen Handlungs- und Urteilskompetenzen der Individuen, abhängt.[v] Ebenso wird aber deutlich, dass Bildungsfragen zugleich auch Machtfragen sind, wonach der Zugang zu Bildung bzw. zu gleicher Bildungsqualität nicht für alle gleich verteilt ist. Im Gegenteil haben die durch die Corona-Krise bedingten bundesweiten Kita- und Schulschließungen deutlich vor Augen geführt, dass das drei- bzw. viergliedrige Bildungssystem der Bundesrepublik nicht in der Lage ist, die Bildungsbenachteiligung für Kinder und Jugendliche, die von relativer Armut betroffen sind und in Armutsverhältnissen aufwachsen, auszugleichen. Unterschätzt werden zudem die politischen Konsequenzen von Bildungsungleichheit.

Die Shell Studie 2019 hat in ihrem neuesten Bericht den starken Zusammenhang von Bildungssystem und politischer Interessenverfolgung hervorgehoben, wenn es heißt: „Bezüglich der Bildungspositionen der Jugendlichen liegt ein deutliches Gefälle vor: Jeder zweite Jugendliche, der das Abitur anstrebt oder erreicht hat, bezeichnet sich als politisch interessiert. Bei Jugendlichen mit angestrebtem oder erreichtem Hauptschulabschluss trifft dies hingegen nur auf jeden vierten zu.“ [vi] Und weiter heißt es: „Je höher die Bildungsposition, desto geringer die Populismusaffinität“.[vii] Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Jugendliche, „die bereits Brüche in ihrer Bildungskarriere erlebt haben. [… und] Jugendliche, die bereits kritische Bildungsereignisse erlebt haben, […] nur zu 47% und diejenigen, die Unsicherheiten in der Qualifikationsphase erwarten, sogar nur zu 30% zuversichtlich in die Zukunft [blicken]“.[viii] Wenn Bildung über die sozialen Lebenschancen und -qualitäten von Kindern und Jugendlichen entscheidet, dann ist die Frage des Stellungbeziehens eine Frage der Bildung, oder genauer: der gesellschaftlichen Formbestimmtheit der Bildung. Die gesellschaftliche und politische Relevanz dieser Problemstellung ist nicht von der Hand zu weisen. Sie betrifft die Stellung des Menschen im Kosmos (Max Scheler), oder weniger pathetisch ausgedrückt, die Zukunftschancen der heranwachsenden Generation in unserer Gesellschaft, die sich, und das versprach die Bildungsidee, als veränderbar erweist. Damit wären wir wieder beim Ausgangspunkt unserer Überlegungen angekommen.

Soll die Rede vom Stellung beziehen mit konkreten Inhalten gefüllt werden, so muss zuvorderst der Anspruch erhoben werden, die Bildungsorte zu demokratisieren und sie in eine demokratische Arena für Kinder und Jugendliche zu transformieren. Über neue Bildungsformen und -chancen jenseits einer neoliberalen Markt- und Wettbewerbsideologie nachzudenken ist mit Sicherheit ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Die alltäglichen Bewältigungsprobleme und Herausforderungen von Kindern und Jugendlichen müssen in eine gesellschaftliche Bildungsstruktur eingebunden werden, in denen die Alltagsprobleme politisch reflektiert und thematisiert werden können. Es ist daher dringlich geboten, Angebote zu stärken, in denen Kindern und Jugendlichen Bildungsmomente und -gelegenheiten eröffnet werden, in denen sie ihre Sorgen offen ansprechen und dabei ihre sozialen Interessen und Lebensbedürfnisse artikulieren können. Das Problem des Stellungbeziehens muss auf solche sozial-lebenspraktischen Entwicklungsaufgaben bezogen sein, darin besteht die Grundlage ihrer politischen Rechtfertigung!

Über den/die Autor*in: Dr. phil. Dominik Novkovic ist Lehrbeauftragter der Institute für Philosophie und Sozialwesen/Soziale Arbeit an  der Universität Kassel. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Theorien der Sozialen Arbeit, Kritische Theorie,  marxistische Theorie. Er ist in leitender Funktion im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe tätig.


[i] Kant, Immanuel (1783/1977): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik I, Frankfurt a./M.
[ii] Marx, Karl (1867/1962): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Berlin.
[iii] Sünker, Heinz/Miethe, Ingrid (Hg.) (2007): Bildungspolitik und Bildungsforschung. Herausforderungen und Perspektiven für Gesellschaft und Gewerkschaften in Deutschland, Frankfurt a./M. u.a.
[iv] Heydorn, Heinz-Joachim (2004). Studienausgabe Bd. 1-9, Wetzlar.
[v] Adorno, Theodor W. (1971). Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a./M, S. 107.
[vi] Shell Jugendstudie (2019): Eine Generation meldet sich zu Wort. Zusammenfassung, S. 14, www.shell.de › shell-youth-study-summary-2019-de, letzter Zugriff: 14.08.2020.
[vii] ebd.: S. 17.
[viii] ebd.: S. 27.

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