Über das Recht auf Faulheit: Ein Brief an Paul Lafargue

Sehr geehrter Kollege, geschätzter Freund,

Ihre Kritik an der mit Idealisierung aufgeladenen Arbeitsmoral Ihrer Zeit hat auch heute noch nicht an Zugkraft eingebüßt. Ihre provokante Forderung, endlich ein Faulheitsrecht auszurufen, ernsthaft und aufrecht müßig zu gehen, und nicht mehr als drei Stunden täglich zu arbeiten[i], klingt noch immer lautstark nach. Dass dabei Müßiggang keineswegs eine unproduktive Tätigkeit ist, sollte selbstredend außer Frage stehen. Sollte…

Es wird Sie freuen zu hören, dass es bereits Experimente in diese Richtung gibt. In einem Bielefelder Unternehmen beispielsweise wird der Fünf-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich und vollem Feiertags- wie Urlaubsanspruch erprobt.[ii] Noch viel zu vereinzelt aber dennoch zunehmend in die Debatte kommend sind weitere ähnliche Modelle, die bereits begriffen haben, dass mit der Quantität geforderter Arbeit die Qualität der Leistung eben nicht im gleichen Maße ansteigt. Sie haben selbst auf dieses Faktum verwiesen.[iii]

Die Kehrseite sind Arbeitsplätze mit miasmatischen Freiräumen, die eher Pseudospielplätzen gleichen. Entspannungsparks, planmäßige Lockerungsübungen, Home-Office,Vertrauensarbeitszeit, Jobsharing und ausgeklügelte Work-Life-Balance Programme verwischen regelrecht die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit. Dabei wird Freizeit zu einem berechenbaren Kalkül, das der Leistungssteigerung dienlich gemacht werden soll. Wenn aber Freizeit durchdrungen wird von Arbeit, wie lässt sich dann noch wirklich Zeit für Muße finden?

U.a. fragen Sie in Fassungslosigkeit, wie es den Arbeiter:innen entgehen kann, dass sie sich in ihrer rasenden Arbeitssucht zerreiben, gar vorzeitig unfähig der Arbeit werden, völlig stumpf, einem Wrack gleich, alles an feinsinnigen Fähigkeiten eingebüßt haben.[iv] Zynisch muss ich ergänzen, dass mittlerweile ein wunderbarer Euphemismus erfunden wurde, um diesem Phänomen „heilend“ beizukommen: Burnout ist das Zauberwort unserer Zeit, das die mentale wie körperliche Erschöpfung für einen Moment erlaubt, da es suggeriert, dass man sich ganz und gar für die heilige Arbeit aufgerieben und sich für den Betrieb das letzte Fünkchen Leistung dem eigenen Energiehaushalt abgerungen hat. Dass es aber eigentlich die Seele ist, die leer und öd geworden ist, darf nicht sichtbar werden. Völlig ausgebrannt zeigt diese vor Erschöpfung das einzige, was ihr als Waffe noch verblieben ist, nämlich den Zusammenbruch auf allen Ebenen. Unter dem Schleier des Burnouts aber wird die eigene Erschöpfung und Dysfunktionalität nach außen wie nach innen gekonnt überdeckt. Depressionen, das eigentliche Phänomen unserer Zeit, dürfen nicht eintreten. Sie würden von Schwäche und Unzuverlässigkeit zeugen. Auszubrennen hingegen, weil man das eigene Leben der Arbeit opfert, wird fast schon mit Anerkennung gehuldigt. Eine verkehrte Welt.

Zu Recht zeigen Sie auf, dass dieser falsche Ethos, die wahnsinnige, menschenmörderische Arbeitssucht, wie Sie es nennen, die Maschinen zu einem Knechtungsinstrument umgewandelt hat, statt sie als Befreiungsinstrument zu begreifen.[v] Dieses Konkurrenzfeld kann nur verloren gehen. Als wäre das nicht bereits pervertiert genug, sieht sich der Mensch von heute der Beweislast ausgeliefert, eine Maschine zu überzeugen, selbst keine zu sein. reCaptcha: bin kein Roboter. Wählen sie alle Bilder aus, auf denen Ampeln zu sehen sind.

Mehr noch! Der arbeitende Mensch ist in seinem Selbstverständnis ganz unbemerkt selbst zum Produkt geworden. Auf vorgeblich sozialen Plattformen im digitalen Massenüberwachungsraum wird jede Äußerung, jeder geklickte Link, jede Mausbewegung, jeder Tastenanschlag, in einigen Fällen sogar der Venenpuls unter dem Auge gemessen und monetarisierbar ausgewertet. Unlängst war der Mensch bereits vom Nutzer zum Konsumenten verarmt. Doch auch diese Stufe scheint immer mehr über- oder gar unterschritten zu sein. Die unweigerlich hinterlassenen digitalen Spuren sind unlängst so lukrativ geworden, dass der Mensch selbstverschuldet, wenn auch ungewollt, einen erneuten Transformationsschritt erfährt: die externe Auswertung seiner Metadaten macht ihn nun selbst zum Produkt.

Die Leistungsgesellschaft war gestern, wir leben in einer Erfolgsgesellschaft. Der Unterschied ist schnell erklärt. In einer Leistungsgesellschaft konnte noch einfach gemessen werden, welche Arbeitnehmer:innen welche Leistungen vollbringen. In einer Erfolgsgesellschaft sind die einzelnen Tätigkeiten viel zu ausdifferenziert, als dass eine Vergleichbarkeit ernsthaft funktionieren könnte. Das Image ist das Entscheidende geworden. Bewertet, geliket und anerkannt wird, wie erfolgreich der Einzelne zu wirken in der Lage ist. Stärken zeigen, Schwächen überschminken und Krankheiten verheimlichen, um nicht den Arbeitsplatz zu verlieren. So tun als ob, heißt die Devise. Und keiner merkt, dass der Chor ein vielstimmiger ist, weil das Versteckspiel so perfide gut funktioniert. Ich bin dereinzige, der unter so enormem Druck steht, dass bereits das Atmen schwerfällt, sagt eine anonyme Masse von Profilbildern. Das eigentliche Leben geschieht abgespalten im ver-netzten Abbild einer Illusion. Das ist die eigentliche Lebenslüge einer Selbstvermarktungsgesellschaft, die gelernt hat, sich selbst als Objekt der Arbeit zu inszenieren.

Dass, wie Sie schreiben, verdummte Arbeiter:innen wie Besessene erzeugen, ohne konsumieren zu wollen[vi], hat sich in der Zwischenzeit ein wenig verschoben. Via Outsourcing ist mittlerweile der globale Kapitalismus bis in die letzten Ecken und Enden dieser Erde vorgedrungen und hat verfügbare menschliche Arbeitskraft ausfindiggemacht, die tatsächlich noch billiger ist, als neuere Maschinen zu entwickeln, zu warten oder gar zu benutzten. Sie weisen ganz richtig mit einem Zitat von Reybaud auf eben jenen Sachverhalt hin, dass es die billigen und billigsten Dienste der Arbeitskräfte sind, die eine Revolution weiterer Arbeitsmethoden zunächst unnötig erscheinen lassen.[vii]

Und doch scheint Ihr Ausruf nicht ganz zielführend zu sein, dass es zur Pflicht gemacht werden muss, die Produzenten der Waren zu zwingen, sie auch zu verbrauchen.[viii] Zwar sehe ich die Stoßrichtung eines solchen Zwanges unweigerlich Einsicht herbeizuführen, sodass die Überproduktion ins Absurde gerät, wollte man jedes Produkt wirklich ehren. Gleichzeitig ist in einer Zeit des Überdrusses zumindest in diesen Breitengraden der Konsum stets auch Schmerzmittel und Sinnsubstitut. In den Tempeln des Konsums werden unaufhörlich die neuesten Derivate von ein und der selben Sache zum Konsum angepriesen. Wir ersticken vielmehr an den Müllbergen ausrangierter Unnützigkeit,die durch ein neues Update pseudo-sakraler Objekte unbedingt ersetzt werden wollen. Wie aber diese Religion ausrotten, wo sie doch zumindest kurzfristig wiederkehrende Befriedigung verspricht? Wie einer Glaubensrichtung beikommen, die im Konsum einer Illusion persönlicher Freiheit unterliegt, während eigentlich nur das begehrt wird, worauf im Voraus konditioniert wurde?[ix] Es bedarf also eines neuen Freiheitsbegriffs, nämlich zu echter Unabhängigkeit von Konsum, anstelle von Freiheit zu unbegrenzter Konsummöglichkeit.[x]

Ihre Idee, verehrter Kollege, den täglichen Arbeitsanteil zu sichern und nur genügendzu rationieren, so dass Arbeit für alle bleibt,[xi] scheint ein immer bedrückenderer Gedankezu werden. Denn was passiert mit der zunehmend größer werdenden Zahl an Menschen, die durch die Revolution der Digitalisierung und einem technisch immer rasanter werdenden Fortschritt, arbeitstechnisch überflüssig, ja regelrecht ausrangiert werden? Hier erst, so scheint es mir, beginnen sich die notwendigen Fragen zu entfalten.

Unser geschätzter Kollege Erich Fromm spricht davon, dass es mittlerweile durch wirtschaftlichen Überfluss möglich werden kann, ein garantiertes Einkommen für alle zu gewährleisten, wodurch Freiheit und Recht auf Leben, so nennt er es, erstmals tatsächlich ausschöpfbar werden könnten.[xii] In seiner Prognose warnt er aber vor einer anzunehmenden anfänglichen Trägheit, die, anders als die Muße, sich als ernstzunehmende Gefahr darstellt. In der Phasenverschiebung aus einer tief verwurzelten kapitalistischen Arbeitshaltung hinüber in ein unerprobtes System an neuer Freiheit werden, nach seiner Einschätzung, viele Menschen nicht imstande sein, die Ideen eines garantierten Einkommens überhaupt zu begreifen.[xiii] Basis dieser Idee ist es nach Fromm, dass der Mensch ein angeborenes Recht auf Leben, Nahrung und Unterkunft, auf medizinische Versorgung, Bildung usw. innehat. Ein garantiertes Einkommen würde aktiv bewirken, dass niemand mehr bestimmte Arbeitsbedingungen aufnehmen müsste, nur um nicht zu verhungern.[xiv]

Das Verharren in tradierten Wertekorsetten verhindert den Schritt ins Unbekannte, mit dem Effekt, dass die nicht gekannte Freiheit, nämlich Zeit selbstbestimmt zu füllen, die Gefahr bergen wird, an der Langeweile zu kranken.[xv] Gleich Entzugserscheinungen erzeugt das Wegfallen von Arbeit ein Vakuum, spült die Untätigkeit eine Leere zutage,welche mit Sinn zu füllen erst noch erlernt werden muss. Die Auseinandersetzung mit ernsthaften Problemen nach dem Sinn des Lebens, die Neuausrichtung von Glaubenssätzen, die Befragung eigener Werte, die Erforschung des Seins an sich, so Fromm weiter, konnten durch Arbeit und Konsum kurz getaktete Kompensierung erfahren, und bedrohen nun verständlicherweise das Individuum in seiner Gewohnheit und eingeübten Betäubung.[xvi] Ich will also zu bedenken geben, dass es eines neuen und verheißungsvollen Narratives bedarf, welches diese Lücke füllt und das in der Lage sein muss, den viel zu tief verwurzelten Glaubenssatz „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, zu überschreiben.

Ihnen ganz ähnlich, verehrter Kollege, kommt auch Fromm zu dem Schluss, dass ein gesteigertes produktives Wachstum nicht Lösung, sondern Problem der Verelendung der arbeitenden Menschen ist. Aus einem psychologischen Standpunkt heraus erläutert er, dass die gegenwärtige Gier nach immer mehr Konsum dazu führt, dass es keinen echten Überfluss geben kann. Das Wesen der Gier ist es, immer Mangel zu leiden.[xvii]

Die Partei Die PARTEI fordert mit Verweis auf Berechnungen von Thomas Piketty satirisch, eine Existenzmaximum einzuführen, also eine Verdienstobergrenzen von einer Millionen „Geld“; alles darüber wird gekappt und umverteilt.[xviii] Ebenso müsste es wohl auch eine Konsumobergrenze geben, zumindest aber einen neuen Wertekanon eines optimalen Konsums, wie ihn der Kollege Fromm fordert.[xix]

Aus diesem korrumpierten System von Suggestion und schnellen Stimuli herauszuführen wird wohl die größte Herausforderung dieser Tage sein. Ich frage Sie: Wie kann es gelingen, die Gier nach maximalen Konsum als Lebensreligion zu durchbrechen? Wie statt dessen eine Haltung etablieren, die, wie einst die alten Griechen, Muße und Nachsinnen schätzt, lehrt, von irdischen Freuden zu kosten, die Intelligenz verfeinert, sich vergnügt und die geistige Vervollkommnungen zum höchsten Gut erklärt; die menschliche Arbeit hingegen, die bereits ohnehin zum allergrößten Teil maschinell erledigt werden kann, als Herabwürdigung des freien Mannes (und selbstredend der freien Frau) begreift? In Anlehnung an Aristoteles also die Erinnerung, dass nur diejenigen wirklich frei sein können, die eben nicht arbeiten müssen.

Hochachtungsvoll,
Ein geneigter Leser Ihrer Lektüre

PS: Ob eine Welt, die aufgrund einer Pandemie aus den Fugen geraten ist, Ausgangspunkt für die diskutierten Veränderungen sein kann, ist eine äußerst spannende Frage. Es bedarf wohl aber wenigstens einer weiteren Arbeit, um diesen Aspekt genauer zu betrachten.


[i] Lafargue, Das Recht auf Faulheit.

[ii] Bös, Hier muss keiner den Stuhl warmhalten.

[iii] Lafargue, Das Recht auf Faulheit.

[iv] Ebd.

[v] Ebd.

[vi] Ebd.

[vii] Ebd.

[viii] Ebd.

[ix] Fromm, Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle.

[x] Ebd.

[xi] Lafargue, Das Recht auf Faulheit.

[xii] Fromm, Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle.

[xiii] Ebd.

[xiv] Ebd.

[xv] Ebd.

[xvi] Ebd.

[xvii] Ebd.

[xviii] Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert.

[xix] Fromm, Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle.


Dieser Beitrag entstand als Studienleistung im Seminar: Ich arbeite, also bin ich? Eine Philosophie der Arbeit. (WS19/20)


Literaturverzeichnis:

Bös, N. (20. Januar, 2020). Hier muss keiner den Stuhl warmhalten. [Karriere]. Von www.faz.net: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/buero-co/lasse-rheingans-im-interview-ueber-den-fuenf-stunden-tag-16583538.html abgerufen am 02.07.2020.

Bös, N. (01. Januar, 2020). Die große Sehnsucht nach mehr Freizeit. [Karriere]. Von www.faz.net:https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/buero-co/vier-tage-woche-grosse-sehnsucht-nach-mehr-freizeit-16571436.html abgerufen am 02.07.2020.

Fromm, E. (1966). Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle. In R. Funk (Hrsg.), Gesamtausgabe, Band V – Politik und sozialistische Gesellschaftskritik (S. 309-316). München: DTV

Lafargue, P. (2010). Das Recht auf Faulheit. In M. S. Aßländer & B. Wagner (Hrsg.), Philosophie der Arbeit: Texte von der Antike bis zur Gegenwart (S. 283–306).Berlin: suhrkamp taschenbuch wissenschaft.

Piketty, T. et al. (2018). Das Kapital im 21. Jahrhundert. München: C.H.Beck.

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