Die Universität als ein öffentlicher Raum der Lehre und Forschung ist besonders im Jahr 2020 auf digitale Medien angewiesen und somit ein Symbol der digitalisierten Gesellschaft. Die Kritischen Theorien von Herbert Marcuse, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Erich Fromm befassen sich noch nicht mit der Digitalisierung im heutigen technischen Verlauf, wohl aber beziehen sie sich auf ihre Grundlagen. Die Industrialisierung, welche mit dem späten 19. Jahrhundert begann und im 20. Jahrhundert auch durch die beiden Weltkriege neuen Schwung erhielt, wird von den Philosophen kritisiert. In Tradition dieser Denker soll folgend der Versuch unternommen werden, die Chancen und Risiken der Digitalisierung für Gesellschaft und Individuum zu umreißen.[1]
Marcuses Werk Der eindimensionale Mensch ist nicht zu trennen von der politischen und technischen Realität seiner Zeit. Die 1960er-Jahre sind die Jahre der studentischen Bewegung und des Aufschwungs der Neuen Linken. Inwiefern diese Auffassung auf die heutige digitalisierte Gesellschaft zu übertragen ist bleibt zu hinterfragen. Dennoch sind Marcuses Kritik und seine Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft auch heute noch aktuell. Mit der Digitalisierung, also der Speicherung von Daten im digitaltechnischen System, sieht sich auch das Individuum und somit die gesamte Gesellschaft mit einem Diskurs konfrontiert, welcher maßgebend für das 20. Jahrhundert und die Frankfurter Schule war: Die Vereinnahmung des Individuums im Kapitalismus und somit in der Produktion und Industrie. Die Digitalisierung steht im weiteren Sinne für die Festigung der industriellen Produktion in die Lebenswelt des Individuums. Der eindimensionale Mensch ist, nach Marcuse, eingebunden in der wirtschaftlichen und technischen Zivilisation und somit ein Teil dieser. Er sieht den Menschen als den Gefangenen der Eindimensionalität, wobei der Begriff der Eindimensionalität, sowohl zur Charakterisierung des Individuums der modernen Industriegesellschaft als auch für diese Gesellschaft und ihre Denkweise selbst verwendet wird. Der eindimensionale Mensch ist eines der wichtigsten Werke des Neomarxismus, der Kapitalismuskritik und der Kritischen Theorie.[2]
Neben Marcuse sind auch Adorno und Horkheimer mit ihrem Werk Die Dialektik der Aufklärung Kritiker der modernen Produktionsgesellschaft. Sie prägten den Begriff der Kulturindustrie und kritisierten damit, dass auch Kunst und Kultur der Produktion anheimfallen und so selbst zur Ware werden, und sich folgend über ihren ökonomischen Wert definieren. Mit dieser Form der Industrie würden Produktionsabläufe mechanisch erfolgen und jedes individuelle Produkt durch die Verallgemeinerung der Herstellung langsam verschwinden. Die Kulturindustrie wird von Adorno und Horkheimer mit der Warenform und der Ideologie, die sich aus der Produktion dieser ergibt, beschrieben. Das Zusammenspiel der Produktion, der Ware und der Ideologie symbolisieren den Charakter der kapitalistischen Vergesellschaftung.[3]
Nach Marcuse werden die Konsumenten dieser kapitalistischen Güter durch deren Kauf an die Produzenten gebunden und somit würden die Konsumenten zum Teil des sozialen Systems werden. Dadurch steckt die damit einhergehende Ideologie im Produktionsprozess selbst.[4] Hierbei bezieht sich Marcuse auf Adorno.
„So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universums herabgesetzt werden.“[5]
Die Selbstverantwortung des einzelnen Individuums wird in diesem System des modernen Kapitalismus immer mehr in Frage gestellt. Die Menschen würden immer mehr Konsumieren ohne Gesamtzusammenhänge zu hinterfragen. Fromm stützt sich auf Marx und spricht hierbei auch von der Entfremdung der Menschen von sich selbst. Dies ist der Charakter der modernen technifizierten Gesellschaft. Die Technologie nimmt mit ihren immer neueren Errungenschaften das Individuum ein und bindet es damit an das moderne System. Dennoch hat sich nicht nur die Technologie gewandelt, auch der Kapitalismus, der sogenannte digitale Kapitalismus entwickelt sich. Wo in den 1960er-Jahren noch Industriekonzerne oder Banken zu den einflussreichsten Unternehmen weltweit gehörten, stiegen ab den 90er-Jahren durch die Digitalisierung nahezu unbemerkt Unternehmen auf, welche heute den Markt in außerordentlicher Art dominieren. Internetgiganten wie Google, Amazon oder Apple gehören zu den marktführenden Unternehmen des 21. Jahrhunderts und haben somit einen immensen Einfluss in digitale Prozesse. Die FAANG-Aktien sind an der Spitze der Börse und ein Beispiel dafür.[6]
Wie schon zu Beginn erwähnt, ist auch die Universität ein technologisierter öffentlicher Raum, in welchem das digitale Medium immer mehr im Zentrum steht. Gerade jetzt in Zeiten in denen Präsenzlehre nahezu unmöglich ist und alles über mobile Endgeräte ausgetauscht wird, zeigen sich die Chancen und Herausforderungen des digitalen Austauschs. Digitale Bildung ermöglicht nicht nur einen interuniversitären Dialog über verschiedene Netzwerke, sondern bietet auch neue Formen der wissenschaftlichen Lehre. Besonders im Jahr 2020 ist digitale Bildung von großer Relevanz, um überhaupt eine Grundbasis an wissenschaftlichen Austausch zu ermöglichen. Fachrichtung wie Philosophie, Geschichte oder Politik leben von einem Dialog.
Doch die Digitalisierung bietet nicht nur Chancen, sondern geht auch mit Herausforderungen an die Gesellschaft und dem Individuum einher. Mit Verlagerung der Bedeutung des digitalen Lernens, geht auch eine neue soziale Ungleichheit einher. Monopole bilden sich nun im Internet, mit dem Ziel die Organisation des Zugangs zu Information und Wissen zu kontrollieren. Die ungleiche Verteilung materieller und immaterieller Ressourcen im Bereich der Geschlechterverhältnisse, der Bildung, oder auch des Arbeitsmarktes wächst durch den Kapitalismus.[7] Um an der neuen Form der Bildung im Rahmen des digitalen Kapitalismus teilzuhaben muss das Individuum auf dem Markt mithalten können und sich auch im Dienste des Kapitalismus an den Produkten beteiligen. Durch diesen ungleichen Bildungszugang in der Gesellschaft kommt es zu einer sozialen Kontrolle bestimmter Güterklassen. Nicht alle gesellschaftlichen Gruppen können sich alle Güter leisten, wodurch einige Waren begehrter sind als andere. Durch die partielle Verlagerung der Produktion auf die digitale Ebene werden soziale Gruppen ohne einen Zugang zur digitalisierten Welt ausgegrenzt. Die globale Vernetzung und der internationale Warenhandel sind in diesem Umfang vermutlich nur durch die Digitalisierung möglich. Wenn sich in der Bildungslaufbahn eines Kindes nicht mit dieser Form des Kapitalismus befasst wird, könnte es dieses schwerer haben in einem digitalisierten Arbeitsmarkt zurecht zu kommen. Somit kann gesagt werden, dass die Digitalisierung und der damit einhergehende digitale Kapitalismus Chancen bietet weltweiten Kontakt zu haben und einen Wissensaustausch zu gewährleisten, zugleich den Markt aber auch weiter in eine Richtung der sozialen Ungleichheit lenkt. Hierbei ist die Ausrichtung des Markts als eine Art Teufelskreis zu sehen. Er wird nicht nur durch die fortschreitende Digitalisierung in eine Richtung gelenkt, sondern der Markt passt sich selbst an die Gegebenheiten an und stellt sich auf die Bedürfnisse der Konsumenten ein. Dadurch hat die Gesellschaft, also die Produzenten und Konsumenten ebenfalls eine Möglichkeit den Markt unbewusst oder bewusst zu steuern.
Über den/die Autor*in: Alisa Kipry ist seit 2017 Studentin der Geschichtswissenschaft und Philosophie an der Universität Kassel. Ihre Interessenschwerpunkte liegen im Bereich der Sozialismusforschung und des Marxismusverständnisses.
[1] Vgl. Walter-Busch, Emil (2010): Geschichte der Frankfurter Schule. Kritische Theorie und Politik, München, S. 195-197.
[2] Vgl. Kaltenbrunner, Gerd-Klaus (1967): „Der eindimensionale Mensch Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft.“, In: Soziologische Texte, Bd. 40, Gewerkschaftliche Monatshefte (10), Köln, S. 602-604.
[3] Vgl. Horkheimer, Max & Adorno, Theodor W. (1947): „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“, in: Andreas Ziemann (Hrsg.): Grundlagentexte der Medienkultur. Ein Reader, Wiesbaden, S. 367-378.
[4] Vgl. Marcuse, Herbert (1967): Der eindimensionale Mensch. Soziologische Texte, Heinz Maus & Friedrich Fürstenberg (Hrsg.), Band 40, Neuwied / Berlin, S. 29.
[5] Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 30.
[6] Vgl. Facebook, Apple, Amazon, Netflix und Google, auf: (https://www.boerse.de) Letzter Zugriff: 21.09.2020.
[7] Vgl. Bauhardt, Christine (2015): „Feministische Kapitalismuskritik und postkapitalistische Alternativen“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 35-37, o. O. , S. 32-39; hier S. 33-34.