Unsere Welt wird zunehmend schneller, die Gesellschaft gestresster, Momente der Langeweile sterben aus – und damit auch das Geschichtenerzählen? Wir haben uns inhaltlich und strukturell mit dem Text „Das Taschentuch“ von Walter Bendix Schoenflies Benjamin auseinandergesetzt. Walter Benjamin war ein deutscher Kulturkritiker, Philosoph und Übersetzer, welcher im Zeitraum von 1892 bis 1940 lebte.[i]
Die Schrift „Das Taschentuch“[ii] beruht auf einer Reiseerfahrung Benjamins auf Ibiza. Der Erzähler, welcher aus der Ich-Perspektive erzählt, setzt sich mit der Frage auseinander, weshalb das Geschichtenerzählen ausstirbt. Er findet die Antwort auf seine Frage, während er seinen Blick vom Promenadendeck über das wunderschöne Barcelona schweifen lässt. Er kommt zu der Erkenntnis, dass das Geschichtenerzählen auf Langerweile beruht. Tätigkeiten, welche sich geheim und innig mit der Langeweile verbunden haben, sterben zunehmend aus und finden im Alltag des Menschen zwischen Arbeit, Ordnung und Unterordnung keinen Platz mehr.
Der Erzähler bezeichnet das Geschichtenerzählen stets als eine Gabe bzw. eine Kunst, bei welcher dieser – der Geschichtenerzähler – in schwierigen Situationen, statt zu jammern und zu stöhnen, seine Erfahrungen und die hierdurch erworbenen Weisheiten an andere Menschen weiterträgt. Dem Erzähler wird anhand der ihm vorgetragenen Geschichte Kapitän O…‘s deutlich, dass nicht jedem diese Gabe zuteilwird und auch er mit dieser nicht gesegnet ist.
Der Erzähler trifft an Bord des Motorschiffes auf den Kapitän O…, da dieser der Kapitän des Schiffes ist, mit welchem der Erzähler seine Reise unternimmt. Der Erzähler ist von der Person des Kapitäns begeistert, da dieser trotz eines sehr „matten Lebens“ die Gabe des Erzählens einer Geschichte innehat. Der Kapitän spricht nicht gern über sein Privatleben, beginnt sich jedoch dem Erzähler in kleinen Teilen zu offenbaren, indem er preisgibt, dass er Erklärungen gegenüber generell abgeneigt sei. Dies zeigt sich auch in seiner Geschichte, welche er mit dem Erzähler teilt, indem er auch hier auf überflüssige Erklärungen verzichtet, ohne dabei Informationen einzubüßen. Er erzählt wie folgt:
Der Kapitän hatte als jüngster Offizier vor vielen Jahren eine Amerikafahrt unternommen. Am siebten Tag machte er einen Rundgang über das Promenadendeck und stellte fest, dass der sechste Liegestuhl leer stand. Die Frau, welche diesen Platz an den Vortagen einnahm, war nicht zu sehen – dies löste ein Gefühl der Beklemmung in ihm aus. Der Kapitän war sehr angetan von der Frau, welche er als auffallend schön und zurückhaltend beschreibt. Er erinnert sich an einen vergangenen Moment, in welchem er ihr ein Taschentuch aufhob. Noch immer sei sein Erstaunen über das Aussehen des Taschentuchs präsent: ein dreigeteiltes Wappen mit drei Sternen in jedem Feld. Die Frau bedankte sich bei dem Kapitän in einer Art und Weise, als hätte er ihr das Leben gerettet und nicht lediglich ein Taschentuch aufgehoben. Der Kapitän wollte sich über den Aufenthaltsort der Frau vergewissern und den Schiffsarzt fragen, ob diese krankgeworden sei. Doch so weit kam es nicht, da er die Frau abwesend über das Gestänge des Sonnendecks angelehnt sah. Eine große Menge Papierzettel tanzte in Wind und Wellen, welcher sie nachblickte. Als das Schiff zur Mittagszeit in Begriff war anzulegen, erblickte er die Frau wieder. Der Kapitän wandte sich zum Niederlassen der Ankertrossen ab, als ein vielstimmiger Schrei ertönte. Erschrocken blickte er auf und konnte anhand der Menge erfassen, dass die Frau sich vom Schiff hinabgestürzt hatte. Trotz aller Aussichtlosigkeit, die Frau lebend retten zu können, unternahm ein Fremder eine Rettungsaktion und schaffte es unglaublicher Weise sie zu retten. Der Fremde, so erzählt Kapitän O…, brachte sie auf die Oberfläche des Schiffes – lebend. In einem Gespräch zwischen Kapitän O… und dem Retter beschreibt dieser ihm nochmals die Rettungsaktion und erwähnt ein Wort, welches der Kapitän von der Schönheit ebenfalls schon mal vernehmen durfte: „Danke“. Die Frau bedankte sich flüsternd bei dem Retter, als dieser sie in seinen Armen hielt. Dies drückte sie auf eine Art und Weise aus, als hätte er ihr ein Taschentuch aufgehoben. Mit diesem Satz beendet der Kapitän die Erzählung seiner Geschichte.
Als sich die Reise dem Ende zuneigt, macht sich der Erzähler nochmal auf dem Weg zu dem Kapitän O…, um diesem abschließend die Hand zu reichen. Jedoch erblickt er ihn in einer Menschenmenge und erfasst, dass auch der Kapitän ihn in diesem Moment bemerkt. Die beiden Männer winken sich zu und verabschieden sich auf diese Weise voneinander. Als der Erzähler erneut durch ein Fernglas in Richtung des Kapitäns blickt, sieht er ihn mit einem Taschentuch winken – mit einem dreiteiligen Wappen und drei Sternen in jedem Feld.
Auf den ersten Blick stellen wir fest, dass der Verfasser dieser Schrift häufig lange Bandwurmsätze anbringt. Insbesondere bei seinen sehr ausführlichen Beschreibungen. Dies steht der Epoche der Weimarer Republik, in welcher die Schrift einzuordnen ist, insoweit entgegen, dass diese von Sachlichkeit und einer emotionslosen und distanzierten Sprachwahl gekennzeichnet ist. Weiterhin lässt sich sagen, dass die Schrift in einem langen Fließtext verfasst wurde und es keine Absätze bzw. Unterteilungen in Sinnesabschnitte gibt. Die Textlänge erstreckt sich über fünf Seiten und ist somit recht kurzgehalten, was viele Schriften Benjamins auszeichnet.
Zur inhaltlichen und sprachlichen Analyse kann gesagt werden, dass die Sprache dieser Schrift als eher modern einzustufen ist. Zudem fällt auf, dass überwiegend der hypotaktische Satzbau vorliegt und der Verfasser eine Vielzahl beschreibender Adjektive anbringt.[iii] Auffällig ist, dass der Name des Kapitäns ausschließlich als „Kapitän O…“[iv] abgekürzt und der wahre Name des Kapitäns an keiner Stelle offenbart wird. Wir haben den Interpretationsansatz, dass der Erzähler entweder den Namen des Kapitäns nicht kennt oder ihn vergessen hat. Es überwiegt allerdings die Überzeugung, dass der Name des Kapitäns nicht offenbart werden soll, was sich anhand der Interpretation der gesamten Schrift verdeutlichen lässt: Nach Ansicht der Studierenden existiert der Retter der Frau nicht als weitere Person, wie der Erzähler es in seiner Schrift darlegt. Der Erzähler beschreibt, wie bereits angedeutet, alles Mögliche sehr detailreich[v], den Retter hingegen, welchem eine immens hohe Bedeutsamkeit zugesprochen werden müsste, erwähnt er lediglich beiläufig. Dies ist Grund zur Annahme, dass der Retter der Frau keine unbekannte männliche Person ist, sondern der Kapitän O…. Diese Vermutung wird weiterhin gestützt, indem man einen Blick auf die genaue Wortwahl der Frau bzw. des Retters wirft. Der Kapitän O… äußerte: „[…] habe ich sie das > Danke < sagen hören mit einem Ausdruck, als hätte ich ihr das Leben gerettet“[vi] Auch der Retter gebrauchte die ähnliche Wortwahl, als er dem Kapitän O… sagte, dass sich das ‚Danke‘ der Frau anhörte „[…] als hätte ich ihr ein Taschentuch aufgehoben.“[vii] Diese Parallelen sind sehr auffällig, insbesondere im Hinblick auf die Tatsache, dass der Retter dieselbe Verbindung mit dem Retten des Lebens und dem Aufheben eines Taschentuchs anbringt. Dies kann unserer Meinung nach kein Zufall sein, da ein Vergleich mit dem Aufheben eines Taschentuchs äußerst fernliegt und der Retter jedes andere Beispiel hätte nennen können.
Unter diesen Gesichtspunkten wird davon ausgegangen, dass der Kapitän O… der Retter ist, er jedoch keineswegs im Mittelpunkt der Geschichte stehen möchte – weshalb der Name auch, wie erwähnt, verschwiegen bleibt. Das Leben des Kapitän O’s… wird vom Erzähler als „sehr matt“ beschrieben und als rede er nicht gern über sein Leben. Dies erscheint jedoch willkürlich, da der Eindruck entsteht, dass dies negative Behaftungen innehat. Die Studierenden vertreten die Ansicht, dass dies jedoch in keinster Weise negativ zu betrachten ist – im Gegenteil. Genau dies ist im Sinne des Kapitän O’s…. Er möchte es tunlichst vermeiden, im Mittelpunkt seiner eigenen Geschichte zu stehen – und genau diese Besonderheit macht den Kapitän O… zum ersten und vielleicht letzten Geschichtenerzähler, auf den der Erzähler in dieser Schrift trifft. Diese Eigenschaft, sich selbst nicht in den Vordergrund zu stellen und zu profellieren, stirbt mehr und mehr aus. Die Gesellschaft wird laufend egoistischer und Ich-bezogener, was das echte Geschichtenerzählen zwangsläufig ausschließt.
Über die Autorinnen: Dieses Essay wurde von Stella Bolat und Angelina Nitzke verfasst. Wir sind 22 und 23 Jahre alt und studieren derzeit beide Rechtswissenschaften im ersten Semester an der Leuphana Universität in Lüneburg.
Die Lesung von Walter Benjamins “Das Taschentuch” ist auf unserem Blog unter folgendem Link zu finden: Walter Benjamin: Das Taschentuch – gelesen von Lea Lang.
[i] Vgl. Suhrkamp/Insel, Autoren: Benjamin, Walter, 2021. https://www.suhrkamp.de/autoren/walter_benjamin_301.html
[ii] Benjamin, Walter: „Das Taschentuch“ in: Ders.: Kleine Kunst-Stücke, Leipzig 1989, S. 93- 98.
[iii] Vgl. Benjamin, 1989, S. 93.
[iv] Benjamin, 1989, S. 93.
[v] Vgl. Benjamin, 1989, S.94.
[vi] Benjamin, 1989, S. 96.
[vii] Benjamin, 1989, S.97.