Ein Orchester lebt. Das Miteinander verbindet einzelne Töne zu einer Melodie, einzelne Stimmen zu einer Partitur. Die Musik, die jedes Instrument erzeugt, kann für sich stehen, doch nur im Zusammenspiel wird daraus eine Komposition. Das Orchester illustriert, wie viele Teile ein neues Ganzes ergeben können. Dabei verschwimmen die Unterschiede der Instrumente nicht, sondern kontrastieren sich und verdeutlichen so, dass Ungleichheit nicht Gegensatz bedeuten muss.
Der einende Gedanke der Musizierenden ist das Ziel, gemeinsam etwas zu erschaffen, das größer ist als die Summe der Teile. Instrumente, Stimmen, Musiker*innen und Dirigent*in existieren in diesem Moment als Einheit, zu der auch das Publikum gehört. Es ist ein essenzielles Element des Konzertes: In ihm drückt sich aus, dass sich Begeisterung und Genuss vermehren, wenn sie geteilt werden. So wie die Musizierenden dankbar für die Möglichkeit sind, ihre Leidenschaft zu entfalten, ist das Publikum dankbar, von dieser Passion inspiriert zu werden und die Virtuosität wertzuschätzen.
Die Akte des Musizierens, Dirigierens und Zuhörens ereignen sich aus der Freude an Musik, Gemeinschaft und dem Schönen. Auch wenn das Orchester ein Arbeitsplatz ist, bedeutet das meist, dass die Musizierenden diesem Beruf freiwillig nachgehen. Oft geht damit sogar ein Traum in Erfüllung. Für das Publikum sind die Umstände, die ein Konzert meist mit sich bringt, weniger Zwang und viel mehr Teil des gesellschaftlichen Ereignisses. Die Tatsache, dass die Zuhörer*innen einen Eintritt bezahlen, zeigt, dass das Konzert für sie einen Mehrwert bedeutet und sie die Arbeit des Orchesters würdigen.
Die Beziehung zwischen den Musiker*innen und dem*der Dirigent*in unterliegt einer besonderen Dynamik. Zweifellos besteht eine Hierarchie, da der*die Dirigent*in eine leitende Funktion innehat. Doch ohne die Musizierenden würde der*die Dirigent*in diese Aufgabe nicht ausführen können. Ebenso hätte es das Orchester ohne eine Leitung schwer. Eine funktionierende Zusammenarbeit setzt ein Verhältnis auf Augenhöhe voraus, bei dem beide Parteien anerkennen, dass kein Machtgefälle herrscht, sondern dass alle Personen in ihren Rollen gleichberechtigt sind. Beide Parteien sind zentrale Bestandteile eines Orchesters, die eine symbiotische Gemeinschaft eingehen.
Von diesem Verhältnis zwischen Orchester, Dirigent*in und Publikum gehe ich aus. Ich habe während des Lesens von Elias Canettis Text „Der Dirigent“ wahrgenommen, dass meine Einstellung zu dieser Thematik ein besonderes Vertrauensverhältnis umfasst, welches zwischen allen Mitgliedern im Orchester herrscht. Diese Vorurteile, die natürlicherweise bei jeder Person vorliegen, beschreibt Hans-Georg Gadamer als notwendige Voraussetzung für das Verstehen, da jede*r Leser*in einem Text mit konkreten Erwartungen gegenübertritt.[1]
Die erzählende Instanz im Text „Der Dirigent“ fasst die Charakteristik eines Orchesters und vor allem eines Dirigenten grundsätzlich anders auf. Canetti sieht den Dirigenten als Paradebeispiel für die Demonstration von zwischenmenschlichen Machtspielen an. Der Dirigent ist sich dabei seiner Macht vollkommen bewusst und genießt es, sowohl die Musizierenden als auch die Zuschauer nach seinem Willen manipulieren zu können. Er wird als Intrigant beschrieben, der ein Konzert als hinterhältige Falle installiert habt, um Triumph zu erlangen. Der Charakter des Dirigenten ist omnipräsent, schnell und kaltblütig.[2]
Aufgrund meiner Vorurteile erscheinen mir die Beschreibungen abwegig. Je eindringlicher im Text Belege für den Machthunger des*der Dirigent*in ausgeführt werden, desto realitätsferner scheint mir die Argumentation. Mir stellt sich die Frage, wie eine Person überhaupt dazu kommt, eine*n Dirigent*in als Beispiel für skrupellose Machtdemonstration zu wählen. Es wird deutlich, dass ich meine Vormeinung in Frage stellen muss, um den Text zu erschließen. Im Sinne Gadamers trägt der beschriebene „Zeitenabstand“, also die Tatsache, dass der Text Canettis in einer anderen Zeit entstanden ist als die, in der ich mich als Interpretin befinde, dazu bei, dass ich den Text aus einer anderen Perspektive betrachten kann.[3] Daher habe ich es als sinnvoll erachtet, mich mit der Biografie von Elias Canetti auseinanderzusetzten. Dieser wurde 1905 als sephardischer Jude geboren und erlebte in früher Kindheit den Balkankrieg sowie den Ersten Weltkrieg und später den Antisemitismus des nationalsozialistischen Regimes sowie den Zweiten Weltkrieg.[4] Unter diesen Umständen hat er immer wieder die willkürliche Ausübung von Macht erfahren, die ihre Grausamkeit in kriegerischen Handlungen und im Genozid am jüdischen Volk, sowie an den Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten zeigte. Ohne Zweifel sind dies Erfahrungen, die einen Menschen unvergleichbar prägen.
Diese Erkenntnisse ermöglichen es mir, den Text „Der Dirigent“ anders einzuordnen, als ich es während des ersten Lesens konnte. Besonders die militärischen Begriffe wie Führer, Armee, Befehl und Marsch, die ich beim ersten Lesen als deplatziert wahrgenommen habe, erschließen sich mir nun. Meine persönlichen Erfahrungen zu Machtverhältnissen sind in keiner Weise vergleichbar mit den Erlebnissen einer Person, die wegen der Machtergreifung der Nationalsozialisten aus Wien nach London emigrierte. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass meine Auffassung von Autorität bezüglich des Beispiels des*der Dirigent*in aus Canettis Text gänzlich anders ist als die der Erzählinstanz. Die Vorurteile, die ich über ein Orchester und eine*n Dirigent*in habe, ändern sich durch diese Erkenntnisse nicht grundlegend. Jedoch kann ich nun nachvollziehen, warum Canetti Tyrannei und Willkür anhand eines Beispiels erläutert, das ich nicht wählen würde. Außerdem ist zu bedenken, inwiefern der Text „Der Dirigent“ die persönliche Meinung Canettis widerspiegelt und ob es überhaupt angemessen ist, das Beispiel im Text auf seine Eignung hin zu bewerten.
Dieser Versuch der hermeneutischen Lektüre hat mir gezeigt, wie hilfreich es ist, den Verstehensprozess in sich als Gegenstand der eigenen Überlegungen zu sehen. Dies wird mir auch in Zukunft beim Verstehen von Texten, Gesprächen und Kunstwerken im Gedächtnis bleiben.
Die Lesung des “Dirigenten” ist auf unserem Blog unter folgendem Link zu finden: Elias Canetti: “Der Dirigent”, gelesen von Frederik Metje.
Über die Autorin: Jule Meinberg studiert Umweltwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg. Dieses Essay ist im Rahmen eines Seminars im ersten Semester entstanden.
[1] Joisten, Karen (2009): Philosophische Hermeneutik, Berlin, S. 143.
[2] Canetti, Elias (2011): Masse und Macht, Frankfurt am Main, S. 468 – 470. Anmerkung: In diesem Absatz habe ich auf die gendergerechte Formulierung bei Dirigent verzichtet, da Canetti nur die maskuline Form verwendet und ich den ursprünglichen Sinn des Textes nicht verfälscht wiedergeben möchte.
[3] Joisten, Philosophische Hermeneutik, S. 144.
[4] Neumann, Bernd, Wimmer, Gernot (2020): Elias Canetti in seiner Zeit, S. 65.