Vom morgendlichen Aufstehen über Gespräche mit Freund*innen bis hin zu unserem Kleidungsstil – Routinen prägen unser Alltagshandeln, meist ohne, dass wir es bewusst wahrnehmen. In einer Art Automatismus ziehen so ganze Arbeitstage scheinbar ohne besondere Vorkommnisse an uns vorüber. Der US-amerikanische Soziologe Harold Garfinkel hat sich diesem Phänomen in seinen berühmt gewordenen Studien zu den Routinegrundlagen des Alltagshandelns[i] zugewandt und mit diesen gegen soziologische Perspektiven Stellung bezogen, die den Menschen implizit als urteilsunfähig darstellen.
Wie aber lassen sich die Grundlagen so selbstverständlicher Routinen erfahrbar machen? Garfinkels Antwort und damit zugleich das Thema des Seminars lag in so genannten Krisenexperimenten (engl. Breaching Experiments). „Als Vorgangsweise ziehe ich es vor, mit bekannten Szenen zu beginnen und zu fragen, was getan werden kann, um Unruhe zu stiften.“[ii] Garfinkel geht es um Verhaltensweisen, welche die selbstverständliche und daher ‚unsichtbare‘ Funktionslogik einer bestimmten sozialen Alltagssituation erschüttern. Diese Routinegrundlagen (Normen) funktionieren für Proband*innen dann plötzlich nicht mehr und initiieren bei ihnen eine soziale Krise. So entfernten Garfinkels Studierende in angewiesenen Experimenten z. B. inmitten einer Partie TickTackToe die Kreise ihrer Gegner*innen, näherten sich Freund*innen wie zu einem intimen Kuss oder stellten unnachgiebig Nachfragen über die Bedeutung basaler Begriffe, die ihre Gegenüber verwendeten. Garfinkel geht davon aus, dass in einer solchen Krise die soziale Bedeutsamkeit von Alltagsroutinen erst deutlich wird.
Krisenexperimente unterscheiden sich damit von einem vorherrschenden Verständnis standardisierter Experimente, wie sie u. a. in der experimentellen Physik oder der Psychologie üblich sind. Garfinkel selbst schreibt diesbezüglich:
„Ein Wort der Einschränkung: Trotz des relativ standardisierten Vorgehens sind meine Studien nicht eigentlich experimentell. Sie sind Demonstrationen, entworfen […] als ‚Hilfen für eine träge Phantasie‘. Meiner Erfahrung nach erzeugen sie Reflexionen, in denen die Fremdheit einer hartnäckig vertrauten Welt entdeckt werden kann.“[iii]
Das Seminar im Methodenmodul der Leuphana Universität Lüneburg hat sich zum Ziel gesetzt, in die Methode des Krisenexperiments einzuführen. Kaum ein Ausgangspunkt wäre hierfür besser geeignet, als die unfreiwillige Teilnahme der Erstsemester-Studierenden an einem solchen Experiment: Zum Seminarbeginn um 10:15 Uhr war der Seminarraum mit Studierenden gefüllt, eine Power-Point-Präsentation an die Wand geworfen, Material lag auf dem Tisch. Der Dozent aber blieb fern, saß für die Studierenden unmerklich zwischen ihnen und unterhielt sich. Über zwanzig Minuten verstrichen, bis zwei Studierende die Initiative ergriffen und das Seminar eröffneten. Das Experiment des ‚unüblichen‘ Seminarstarts wurde beendet und bot den Studierenden eine ideale Diskussionsbasis, ermöglichte ihnen einen praktischen Zugang zu den folgenden methodologischen Grundlagentexten und weiteren Beispielen. Diese wurden durch einen Exkurs zur Forschungsethik ergänzt, in seiner Bedeutung für Sozialexperimente – seien sie auch noch so niedrigschwellig – nicht zu unterschätzen.
Im zweiten Teil des Seminars fragten sich die Studierenden in sechs Kleingruppen, wie sie selbst ‚Unruhe‘ stiften konnten. Jede Gruppe entwickelte eigene Experimente auf Basis ihrer persönlichen Alltagserfahrungen, führte diese gemeinsam durch und dokumentierte sie eigenständig. In der Projektarbeit zeigten sich die Studierenden als äußerst engagiert und einfallsreich: So planten die Studierenden einer Gruppe bei lautstarken Telefongesprächen eine Party während universitärer Lehrveranstaltungen, andere fragten in vorgeblicher Krankheit Fremde nach einen Schluck Kaffee und eine weitere Gruppe begann in der Lüneburger Innenstadt direkt neben anderen Menschen zu gehen, so als ob man sich schon lange kannte. Das Verhalten ihrer Mitmenschen an der Kasse war für die vierte Gruppe von Interesse, die begann, alle ihre Produkte einzeln und auf unterschiedliche Weise zu bezahlen. Mindestens zwölf Mal wurde jedes Experiment von einzelnen Studierenden durchgeführt, stets im Beisein von eingeweihten Kommiliton*innen.
Von Bedeutung waren die beiden Beobachtungsebenen, von denen aus die Studierenden ihre Analysen vornahmen: Einerseits der Beobachtung der ausgelösten sozialen Krisensituationen, darunter der Interaktion von Proband*innen und Dritten, andererseits ihrer persönlichen Selbstwahrnehmung in der Durchführung ihres Experiments. Der Verschränkung dieser beiden Ebenen sowie ihrer gesellschaftspolitischen Einordnung war Gegenstand der abschließenden Präsentation und Diskussion der Krisenexperimente im Plenum.
Vor dem Hintergrund der Experimente widmete sich der dritte und letzte Teil des Seminars der Frage, wie soziale Krisen und Krisenexperimente von anderen provokativen Formen zu unterscheiden sind. Das Seminar untersuchte hierzu verschiedene Beispiele aus der Performance-Kunst (Marina Abramović , Yoko Ono oder Wolfgang Flatz u.a.), der politischen Satire und des Protests (das Erdogan-Gedicht von Jan Böhmermann, Aktionen von Kristian von Hornsleth oder dem Zentrum für politische Schönheit u.a.). Bei anregenden Diskussionen rückte damit das emanzipative Potenzial solcher Experimente ins Zentrum der Aufmerksamkeit, vertieft anhand eines Textes von Michel Foucault.
Auf dem philosophike-blog sind drei der einsichtsreichen Dokumentationen aus dem Seminar versammelt:
Eine Seminargruppe hat sich in ihrem Krisenexperiment den Alltagsroutinen um Menstruation und dem hygienischen Gebrauch von Menstruationstassen gewidmet. A. Andersen, S. Bluhm, S. H. Lehmann, L. Mehner & J. M. Winkelmann haben ihr Vorgehen und ihre anregenden Eindrücke in einem gemeinsamen Bericht zusammengetragen, der sich auch als Infragestellung der Tabuisierung weiblicher Körperfunktionen lesen lässt.
Eine andere Seminargruppe hat sich mit dem öffentlichen Ausdruck von Gefühlen befasst. Die stellvertretenden Reflexionen der Gruppe von M. Trümpler und T. Witt stellen ein Krisenexperiment dar, in dem sie an einem öffentlichen Ort zu weinen begonnen haben. Die Reaktionen der Passant*innen sind dabei ebenso eindrucksvoll wie die Selbstbeobachtungen der Studierenden.
[i] Garfinkel, Harold (Studien über die Routinegrundlagen von Alltagshandeln, 1973): Studien über die Routinegrundlagen von Alltagshandeln, in: Heinz Steinert (Hrsg.), Symbolische Interaktion, 1973, S. 280–293.
[ii] Garfinkel, H., Studien über die Routinegrundlagen von Alltagshandeln, 1973, S. 280.
[iii] Garfinkel, H., Studien über die Routinegrundlagen von Alltagshandeln, 1973, S. 280.