Seminareindrücke zu: Bloß Kritik? – Diskussionen zur „Universalmethode“ für Forschung und Gesellschaft

Eine kritische Einstellung, das ist es, was gute Forscher*innen und Lehrende benötigen. Was einhellig erscheint, ist jedoch voraussetzungsreich. Was ist eine solch kritische Einstellung? Was kennzeichnet kritische Forschung und was sind etwaige Grenzen dieser? Reicht es gar aus, einfach das Attribut kritisch zu übernehmen? Was meint dieses Attribut überhaupt, ja was ist Kritik?

Unter dem Titel Bloß Kritik? – Diskussionen zur „Universalmethode“ für Forschung und Gesellschaft hatte ich das Vergnügen im Wintersemester 2019/2020 im Methodenmodul der Leuphana Universität Lüneburg ein Blockseminar zu organisieren, das diesen Fragen nachging. Anstatt, wie die anderen Veranstaltungen des Moduls, spezifische Forschungsmethoden zu erarbeiten, machte dieses Seminar also das methodologische Axiom des Kritischen zu seinem Gegenstand. Dabei wurden die Studierenden, mehrheitlich des ersten Studiensemester und aus unterschiedlichen Fachrichtungen, mit Texten oder Textausschnitten der jüngeren Sozialphilosophie konfrontiert. Solche stellten sich als äußerst komplex und damit als gemeinsame Herausforderung für das Seminar dar, wobei einzelne Fragmente das Fundament angeregter Diskussionen bildeten: Die Studierenden stellten Bezüge zu aktuellen politischen Kontroversen (Abtreibung, Missbrauch u.a.) und zu ihrem eigenen sozialen und nicht weit zurückliegenden, schulischen Kritikerfahrungen her. Zugunsten der Interessen der Studierenden verließ das Seminar den vorgeschlagenen Plan und ließ zugunsten tieferer Arbeit an einigen Texten, die anderen zurück. Als Dozent war ich um Zurückhaltung bemüht sowie darum, der Diskussion keine inhaltlichen, räumlichen oder zeitlichen Grenzen zu setzen, was von einigen Studierenden als Freiraum, von anderen als mangelnde Positionierung aufgefasst wurde.

Den Beginn des Seminars bildete ein Zitat Ulrich Bröcklings, zu dem die Studierenden Stellung bezogen:

„Jeder Akt der Kritik setzt sich aus zwei Momenten zusammen: Der Kritiker trifft erstens eine Unterscheidung, und er versieht zweitens eine Seite der Unterscheidung mit einer wertenden Markierung und erklärt das, wovon er sich absetzt, für verwerflich, unwahr, stümperhaft, hässlich oder sonstwie ungenügend. Er sagt ‚ich sehe es anders‘ und sagt ‚ich will das nicht‘ beziehungsweise ‚das gefällt mir nicht‘.“[i]

Nach anfänglichem Zögern entwickelte sich mit der anschließenden Sammlung rund um den Begriff Kritik eine rege Diskussion: Wo treffen wir Kritik im Alltag an? Mit welchen anderen Begriffen (Reflexion, Widerstand, Feedback u.a.) steht er wann in Zusammenhang? Unter welchen Voraussetzungen gilt etwas als kritisch?

Den Alltagsverstand um Kritik aller Anwesenden aktiviert, machte ein enzyklopädischer Beitrag von Dirk Stederoth[ii] den Auftakt zur Textarbeit. Gegenstand des Close-Readings und des anschließenden Austauschs waren die ersten drei einführenden Seiten. Ziel war es, eine Minimaldefinition zu erarbeiten, die hinsichtlich anderer Kritikmodell vergleichend zur Anwendung kommen sollte.

Schlaglichtartig untersuchte die Seminargruppe daraufhin in zwei Blockveranstaltungen verschiedene Verständnisse von Kritik und ihre jeweils zugestandene Rolle in Wissenschaft und Forschung. Neben Karl. R. Popper[iii] und Theodor W. Adorno[iv] standen Textausschnitte von Michel Foucault[v], Bruno Latour[vi] und Paul Feyerabend[vii] zur Diskussion. Ob wir in einem ‚Age of Criticism‘[viii]  leben oder Kritik an Dampf verloren hat[ix], das Verhältnis zwischen dem was Kritik für junge Wissenschaftler*innen ist und sein kann blieb die zentrale Frage, zugunsten derer die theoretische Textfragmente unter Augenschein genommen wurden. Dabei halfen Rückbezüge zur Minimaldefinition, wenngleich diese kein umfassenden Analyseraster an die Hand gab.

Den Zeitraum zwischen den beiden, zweitägigen Blocksitzungen überbrückte eine einordnende Lektüre. Matthias Isers Überblick zur Gesellschaftskritik[x] und Michael Hampes Darstellung des Verhältnisses von Wissenschaft und Kritik[xi] waren die Texte der Wahl.

Über die vorgeschlagene Seminarliteratur hinaus bot die Studienleistung den Studierenden die Möglichkeit eigene Interessen zu verfolgen und diese mit dem Seminarthema zu verbinden. Auf diese Weise ließ sich tiefer in das weite Begriffs- und Konzeptionsfeld zu Kritik vorstoßen, weiterführende Fragen klären, künstlerische und queere, filmische und postkoloniale Kritiken entdecken. Zu einer solchen, selbstgewählten (und teils selbstrecherchierte) Textgrundlage galt es ein Essay respektive eine Kritik zu verfassen. Zudem bildeten die Studierenden Tandems und überarbeitet so im gegenseitigen Austausch ihre Schriften. Ich freue mich, dass einige dieser Arbeiten hier auf dem philosophike-blog zusammengekommen sind:

M. Miller-Aichholz widmet sich in ihrem Essay Hartmut Rosas Aufsatz Kritik der Zeitverhältnisse, fasst diesen gekonnt zusammen und eine eigene Kritik an diesem zu formulieren.

Inwiefern Fotographie zur Kritik werden kann, wird in K. Eilers Diskussion von Katalin Cseh-Vargas Aufsatz Die Kritik der Kamera – Performative Fotografie im Ungarn der Siebzigerjahre Thema.

In einem Überblicksbeitrag stellt der Diskursforscher Martin Reisigl die Sprache der Kritik und seine Kritik an dieser dar. Kommentiert wird diese linguistische Arbeit von I. Theede.

Der politische Streit um das Gedicht des Schriftstellers Eugen Grominger, das Anfang 2018 an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule geschrieben wurde, ist Gegenstand des Essays von F. Peters.



[i] Bröckling, Ulrich: Die Umkehrung des Genitivs. Thesen zur Kritik, in: Ulrich Bröckling (Hrsg.), Gute Hirten führen sanft, 2017, S. 383–391, hier S. 383.

[ii] Stederoth, Dirk: Kritik, in: Hermann Krings u. a. (Hrsg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, 2011, S. 1346–1357.

[iii] Popper, Karl. R.: Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Theodor W. Adorno u. a. (Hrsg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1979, S. 103–124.

[iv] Adorno, Theodor W.: Zur Logik der Sozialwissenschaften, in: Theodor W. Adorno u. a. (Hrsg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1979, S. 125–144.

[v] Foucault, Michel: Was ist Kritik?, Berlin: Merve Verlag, 1992.

[vi] Latour, Bruno (Elend der Kritik, 2007): Elend der Kritik: Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belangen, Zürich/Berlin: diaphanes, 2007.

[vii] Feyerabend, Paul K.: Die Aufklärung hat noch nicht begonnen, in: Paul Good (Hrsg.), Von der Verantwortung des Wissens, 1982, S. 24–40.

[viii] Raffnsøe, Sverre: What is Critique? Critical Turns in the Age of Criticism, in: OUTLINES – CRITICAL PRACTICE STUDIES 18 (2017), Heft 1, S. 28–60.

[ix] Latour, B.: Elend der Kritik, 2007.

[x] Iser, Matthias: Gesellschaftskritik, in: Gerhard Göhler/Matthias Iser/Ina Kerner (Hrsg.), Politische Theorie, 2011, S. 142–157.

[xi] Hampe, Michael: Wissenschaft und Kritik: Einige historische Beobachtungen, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hrsg.), Was ist Kritik?, 2013, S. 353–371.

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